Amazonien - ein Foto- und Lesebuch - Susanne Gerber-Barata

Der rosafarbene Delfin
Einladend werden sie den hungrigen Kinderaugen
präsentiert: Rosafarbene Delfine, ein kleiner
springender Fischschwarm, der nicht nur die
Kinder in zuckersüße Versuchung führt. Sorgfältig
einer hinter den anderen auf glänzende Alufolie
aufgespießt, von einer Plastikhaube beschützt.
Auf der einen Seite flankieren in perfekter Reihe
ultrarote Erdbeeren und links locken saftig gelbe
Cashewfrüchtchen. Dazwischen täuschend echt
bis auf die Kerne nachempfundene Wassermelonen-Minischnitze.
Alles aus künstlich
gefärbter, unendlich süßer Zucker-Pulvermilch-
Masse von geschickten Händen nachmodelliert.
Schon trägt ein Junge stolz seinen Minidelfin
davon. Hat ihm, schwupps, auch gleich den Kopf
abgebissen.
Rosafarbene Delfine, pinkfarben wie Schweine,
„Botos cor de rosa“ gibt es im Amazonasgebiet
wirklich. Auch wenn die grauen, der Tuxuci,
bekannter sind. Die Fischverkäufer in Santarém
halten sich ein paar, sozusagen als Maskottchen.
Keiner isst Delphinfleisch. Solange es der
Wasserstand zulässt, tauchen sie elegant und
wendig zum Entzücken der Touristen den Fischen
nach, die man ihnen an einem Seil zum Fraß
vorwirft. Sie stehen nicht nur im guten Ruf,
Schiffbrüchigen zu helfen, schwimmend das
rettende Ufer zu erreichen. Sie lieben es auch,
vorbeiziehende Boote ein Stück zu begleiten.
Entzücken Schiffer und Passagiere mit ihren
fröhlichen Sprüngen und scheinen die Menschen
ganz generell nicht zu fürchten.
Was man allerdings von den Menschen nicht
behaupten kann. Sie begegenen den Delphinen
mit viel Respekt. Sie halten Delphine für mytische
Tiere. Nicht wenige der Fischverkäufer, und nicht
nur sie, sind sich sicher, dass „o Boto encanta“, die
Delphine verzaubern. Mehr als einmal haben sie
mich darauf aufmerksam gemacht. Sie gelten als
sagenumworbene Wesen, verehrt und gefürchtet,
viel mehr als ein Säugetier in Form eines Fisches.
Die Indios nennen den Delfin nicht von ungefähr
kraftvoll „Pirajaguara“ - fischgewordener Panther.
Dass irgendetwas daran sein muss, kann ich mit
einen Augen bezeugen. Der Sonnenuntergang im
Hafen ist stimmungsvoll. Die Wasser ruhig. Da
draußen schwimmt gerade jemand Crauwl.
Crauwl? Hier schwimmt keiner Crauwl! Wir alle
haben ihn gesehen. Es war kein Mensch. Es war
ein Delphin. Willkommen im Kreis derer, die an
Delphine in Menschengestalt glauben!
Die amazonischen Delphine sind mit magischen
Kräften ausgestattet. Schöne junge Delphinmännchen
verwandeln sich nachts, magischerweise
immer dann, wenn sie eine schöne Jungfrau
vor sich sehen, die, aus was für Gründen auch
immer, gerade ohne väterlichen oder männlichen
Schutz oder maskuline Begleitung ist, in stattliche
Männer. Von Kopf bis Fuß ganz in Weiß
gekleidet, hochsympathisch, tragen sie,
sozusagen als Erkennungszeichen, einen
schwarzen Hut, der einzig dazu diene, das Loch
hoch oben auf dem Kopf zu verdecken, durch das
ein jeder Delfin nun mal atmet.
Die wundersam Verwandelten mischten sich
ungeladen und unbemerkt unter die Leute, unter
die Gäste eines Festes. Versprühten, eine Art
tropischen Don Juans, einen unwiderstehlichen
Zauber. Betörten, hypnotisierten, brächten die
Herzen der allerschönsten Mädchen sogleich in
ihren Besitz. Die arglos- jungfräulichunschuldigen
Geschöpfe merkten allerdings erst
Wochen später, dass sie guter Hoffnung seien.
Die Frage, wie und von wem sie geschwängert
worden waren, bleibt unbeantwortet. Als
einzigen Ausweg führten sie, hilflos und
überrumpelt, jenen Delfin als Kindsvater an.
Der Fragliche aber sei längst vom Schauplatz Fest
verschwunden. Zeichne sich am Horizont das
Morgenrot ab, tauche er so unauffällig wie er
aufgetaucht sei wieder ab, lautlos und endgültig.
Den wenigen, denen es bestimmt war, ihn dabei
zu beobachten, schwören, dass er auf kürzestem
Weg zum Ufer laufe und einfach in den Fluten
verschwinde. Keinem ist es gelungen, ihn wieder
auftauchen zu sehen.
Amazonien, ein Foto- und Lesebuch - Susanne Gerber-Barata 819