Amazonien - ein Foto- und Lesebuch - Susanne Gerber-Barata

Von der Kraft, die heilt und einer wundersamen Verwandlung
Sie ist für kurze Zeit bei uns zu Gast. Eine Frau in
mittleren Jahren. Irgendwann beim Frühstück
zieht sie mich ins Vertrauen. Klagt mir ihr Leid. Sie
fühle sich, die könne es selber nicht in Worte
fassen, einfach irgendwie unwohl. Keine wisse es
besser als sie, dass es dafür nicht den mindesten
Grund gäbe. Sie habe doch alles, eine tolle
Karriere, einen überaus erfolgreichen Mann und
eine wunderbare Familie. Aber doch, irgendetwas
bedrücke sie. Sitze ihr auf der Seele. Ob es hier in
Brasiliens Norden vielleicht jemand gäbe, der ihr
helfen könne?
Muss nicht lange überlegen. Hatte nicht der
Taxifahrer mir mal erzählt, dass sein Onkel das
“dom”, (“o dom da cura”) habe? Die Macht, ein
Geschenk, die Kraft, andere zu heilen. Er selbst
habe sie auch. Wolle sie aber nicht ausüben.
Ein Anruf genügt. Gleichzeitig nachgefragt, wie
man sich verhalte, ob und wie, wann und wie viel
man denn bezahle. Schicke sie, gut aufgehoben,
im Taxi des Neffen los.
Schon mit anderem Alltagskram beschäftigt, kann
ich meine Überraschung kaum zügeln, als sie
wieder zurückkommt. Eine Art wundersamer
Verwandlungsprozess hat stattgefunden. Es
kommt eine andere Frau zurück! Sie scheint
mindestens drei Zentimeter größer! Sie ist gelöst,
befreit, umgekrempelt. Es ist, wie wenn jemand
einen Hebel umgelegt hätte, einen Zauberspruch
gesprochen oder so ähnlich. Hätte wohl doch
mitfahren sollen, um das Wunder aus nächster
Nähe mitverfolgen zu können. Die drei 2-Liter PET-
Flaschen voller “Garrafadas”, extra für sie
zurechtgemixt, trinkt sie religiös wie
vorgeschrieben. Nimmt den Rest gar mit nach
Amerika, getarnt als Guaraná. Die beiden Getränke
haben ja ungefähr die selbe Farbe.
Und ist sie nicht gestorben, so hält die
unerklärliche, unfassbare Wirkung des Zaubers wie
es scheint bis heute an! Ganz nach dem Motto,
wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen
hätte, hätte ich es nie geglaubt!
Hier im Amazonas sind Rezedeiros, Benzedeiras
und Puxadores noch nicht arbeitslos. Sie segnen,
beten für die Kranken oder rücken die
ausgerenkten Knochen jener zurecht, die um die
Wirksamkeit ihrer Arbeit und ihres “Dons” wissen.
Ihre Heilkraft wird aus Ebenen gespeist, zu denen
die moderne Zeit und unsere Kultur keinen Zugang
mehr hat. Viele hier, auch manch aufgeklärter
Doktor, halten es mit beiden. Ist ein Knöchel
verdreht, gehen sie zur Puxadora, deren
fachkundige Hände, Öle und Massagen sogleich
Linderung versprechen. Fällt ein Kind aus der
Hängematte oder schreit es überdurchschnittlich
viel oder ist es sonst auffällig, lohnt es sich, es
einmal mit einer Rezedeira oder Benzadeira und
ihren Gebeten und Segenssprüchen zu versuchen.
Die heilt oder vernäht auch die unsichtbaren
Wunden, die so ein Sturz wohl auch mit verursacht
hat.
Auffallend ist, dass alle, die heilen, betonen, dass
diese Macht ein Geschenk sei. Dass die Kraft,
andere zu heilen, angeboren und gottgegeben sei.
Manche entdecken oder entwickeln sie selber,
anderen wird es von Vorfahren vererbt oder
überliefert. Traditionellerweise wird das Heilen mit
einem kleinen Geschenk vergolten, ein Heiler
nimmt dafür kein Geld an.
Und wie es scheint, gibt es bis heute genug
Kunden, auch Leute aus der modernen Zivilisation,
die ihre Dienste in Anspruch nehmen, gar aus der
Kur drei Zentimeter größer und geheilt
hervorgehen! Den Benzedeiros ein langes Leben!
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