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Amazonien - ein Foto- und Lesebuch - Susanne Gerber-Barata

Foto- und Lesebuch über den brasilianischen Amazonas

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gerührt. Dann schrill <strong>und</strong> überraschend, Misstöne.<br />

Die Gläubigen wollen näher, noch näher an die<br />

Heiligenfigur heran! Der Kapitän widersteht den<br />

Schimpftiraden. Lässt sich zurufen, dass er vor der<br />

Heiligen fliehe! Das Gezeter wird immer emotioneller<br />

<strong>und</strong>… Der Kapitän erhört die Gläubigen<br />

<strong>und</strong> zieht das Schiff in elegantem Bogen so nah<br />

am Kreuzer vorbei, wie es die Marine in ihrer<br />

Majestät auch nur erlaubt. Ein bewegender<br />

Augenblick, feierlich, inbrünstig.<br />

Am Kai, wieder auf sicherem Gr<strong>und</strong>, empfangen<br />

uns inmitten der jubelnden Menge unzählige<br />

Spielzeugverkäufer, <strong>ein</strong>ige halbe Kinder, <strong>ein</strong>e<br />

andere Tradition des Círios. Bieten auf übermannshohen<br />

Doppelkreuzen aus federleichtem<br />

„Burití“, <strong>ein</strong>er Palmenart, traditionelles Spielzeug<br />

feil. Kunterbunt, naiv, w<strong>und</strong>erhübsch.<br />

Farbenprächtige Kanus <strong>und</strong> größere Schiffe,<br />

Vögel, die paarweise mit ihren Schnäbeln auf<br />

fiktives Futter <strong>ein</strong>hacken. Gürteltiere, die mit Kopf<br />

<strong>und</strong> Schwanz wackeln, wenn das Gewicht unter<br />

ihrem Bauch hin <strong>und</strong> her schaukelt. Wendigen<br />

Schlangen, grellbunte Wippen <strong>und</strong> das Karussell –<br />

Spielzeug aus <strong>ein</strong>er vergessenen, altmodischen<br />

Welt ohne Plastik. Es wird auf <strong>ein</strong>er Insel vor<br />

Belém von unzähligen Handwerkern von Hand aus<br />

der ultraleichten Palmfaser geschnitzt, das ganze<br />

Jahr über, <strong>und</strong> nur in den Tagen des Círios in den<br />

Straßen verkauft. Am Kai geht es gleich weiter mit<br />

der „Pavulagem“, der perfekten Mischung aus<br />

Heiligem <strong>und</strong> Profanem. Eine Art Kirmes, <strong>ein</strong><br />

Jahrmarkt, <strong>ein</strong> wahrhaftig populäres Volksfest.<br />

Heute Abend findet bei Kerzensch<strong>ein</strong> <strong>und</strong><br />

singenden Padres die feierliche „Transladação“,<br />

die Überführung der Heiligenstatue von der<br />

Basílica de Nazaré zur Matriz statt.<br />

Und dann, dann ist es endlich soweit. Am Sonntag<br />

des Círio beginnt die Prozession mit <strong>ein</strong>er Messe in<br />

aller Herrgottsfrühe. Früh, sehr früh am Morgen,<br />

um der gröbsten Hitze <strong>und</strong> dem obligaten Regen,<br />

der normalerweise nachmittags fällt, zu entgehen.<br />

Der ganze riesige Platz vor der Matriz ist<br />

rappelvoll. Die Messe ist feierlich <strong>und</strong> dann geht,<br />

unter Böllerschüssen formiert sich der Umzug. An<br />

der Kordel drängen sie sich, baren Fußes. Die Stadt<br />

brodelt. Viele beziehen schon sehr früh ihre<br />

Logenplätze, st<strong>und</strong>enlanges Warten auf die<br />

Prozession gehört dazu. Andere gehen der<br />

Prozession entgegen, laufen <strong>ein</strong>e Abkürzung, um<br />

sie mehrmals zu sehen. Wir bekommen, <strong>ein</strong>e Hand<br />

wäscht die andere, unsere Plätze hoch oben auf<br />

<strong>ein</strong>er der vielen Tribünen.<br />

Unterdessen habe ich mir auch <strong>ein</strong>en der vielen<br />

Papierfächer besorgt, die praktischerweise auch<br />

gleich den Text der Ave Marias aufgedruckt haben.<br />

Heute ist die Musik live. Viele ausgebildete Sänger<br />

<strong>und</strong> Sängerinnen treten in <strong>ein</strong>e Art Wettstreit, von<br />

den gesponserten Tribünen auf beiden Seiten der<br />

Straße aus. Ihre Klasse <strong>und</strong> Inbrunst sch<strong>ein</strong>t die<br />

Kakofonie wettzumachen <strong>und</strong> weder die immer<br />

zahlreicheren Gläubigen noch die hochverehrte<br />

Heilige sch<strong>ein</strong>en sich daran zu stören. Schon ist die<br />

Spitze der Prozession in Sicht. Hälse recken sich,<br />

Gedränge, Getümmel, Emotion. Unter den Füßen<br />

der Pilger bildet sich <strong>ein</strong> knöcheltiefer Teppich<br />

aus Wasserflaschen, Girlanden <strong>und</strong> anderem<br />

Abfall. Auch das sch<strong>ein</strong>t k<strong>ein</strong>en zu stören. Viele<br />

Gläubige waten mit bloßen Füßen durch ihn<br />

hindurch, die verzückten Augen auf die Kordel<br />

gerichtet. Später kommen alle Familien, die<br />

Nachbarn, die Fre<strong>und</strong>e zusammen <strong>und</strong> essen<br />

„Pato no Tucupí’“, Ente in Tucupí, das<br />

traditionelle Festessen, wohl <strong>ein</strong>es der<br />

ursprünglichsten <strong>und</strong> unverwechselbarsten Essen<br />

Brasiliens.<br />

Was als Erinnerung bleibt, ist die Unbekümmertheit,<br />

die Echtheit, die kräftigen Farben <strong>ein</strong>es<br />

Volksfestes, <strong>und</strong> der Respekt für <strong>ein</strong>e unverfälschte,<br />

pure Gläubigkeit, die, so glaube ich,<br />

wahrsch<strong>ein</strong>lich wirklich Berge versetzen kann.<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 647

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