Amazonien - ein Foto- und Lesebuch - Susanne Gerber-Barata

Chic caboclo
Damit Sie auch etwas auf Ihre Kosten kommen,
lade ich Sie zu einem Stadtbummel ein, in eines
der populären Zentren natürlich. Hier finden Sie
alles, was ich im Geheimen, verzeihen Sie mir die
europäisch-überhebliche Arroganz, “Caboclo-
Schick”, nenne. Der doch sehr zweifelhafte Schick
des Nordens ist eine überaus interessante
Mischung aus ordinär und proper. Ein Geschmack,
der sehr leicht in Kitsch abgleitet, besonders
wenn er zu schreiend daherkommt, zu farbenprächtig,
seine unverhüllte, unmittelbare
Schwäche zum Billigen nie verleugnet. Aber meist
balanciert er liebevoll genauf auf der Kante, ohne
wirklich abzustürzen, rettet sich durch die
Naivität, mit der er daher kommt, und die Freude
und Natürlichkeit, mit der er getragen wird.
Das typische an dieser Art Schick ist, neben der
Lust auf schrille, farbige Farben, dass er keine
Chance auslässt, hier noch etwas Glanz, da noch
ein Spitzchen, einen Strass, einen überaus
ausgefallenen Kragen, Dekolletés oder andere
Aus- und Einschnitte, Einblick, Durchblick, eine
Aufschrift, eine kindliche Zeichnung, ein Herz oder
irgendeine andere dekorative Kleinigkeit
anzubringen. Mehr scheint immer besser: noch
enger, noch anliegender, noch zerschnittener,
noch mehr Ausschnitt, am liebsten hinten und
vorne, noch mehr Transparenz, Spitze, Stickerei,
Glanz. Die durch die Temperaturen auferlegten
Einschränkungen scheinen die lokalen Designer
zur generellen Verblüffung geradezu zu beflügeln!
Wie keine anderen pflegen sie das Ausgefallen-
Andere, Extravaganzen, lieben neben schrägen
Dekorationen, Drucke, Mix und Match, Stickerei
und alle anderen denkbaren und undenkbaren
Handarbeiten, kurz, alles, was herausputzt,
verbessert und verschönt und natürlich immer die
appetitlichen Körper und Kurven jener gut
gepolsterten Mädchen, Frauen, Jungen und
Männer vorteilhaft zur Geltung bringt, nachzeichnet,
betont, deren eher gedrungene Körperstatur
eine klare Tendenz zur üppigen Fülle zeigt.
Alles wird mit so viel Frische, so rein getragen,
dass es einem ins Herz schneidet, kindlich und
verspielt, Hauptsache es verschönt, macht auf sich
aufmerksam, erheitert.
Selbst wenn es gar keinen „Jeitinho“, ein Kniffchen
mehr gibt, den gerade herrschenden Modeschrei
zu variieren, bleiben da immer noch die
Accessoires. An keinem anderen Ort sehe ich so
viele goldene, lackierte, dekorierte Schuhe, mit
transparentem oder nadelfeinem Stilettoabsatz,
höher geht´s nicht, und hühneraugengarantierender,
fein zulaufender Spitze - wie wenn die
Kleidung nicht schon auffällig genug wäre. Schreit:
Hier bin ich! Seht her! Krasser nur die absolute
Vorliebe für das unecht blondeste Blondhaar, die
gar nicht diskret gebleichten Lichter und
Strähnchen, der Welt. Wen interessiert denn
schon, dass es fake ist? Es macht doch Spaß!!!
Schick-Caboclo ist rein, ehrlich und konsequent –
Alltags- und Straßenmode im besten, populärvulgärsten
Sinn. Mode, die von der Straße
kommt und für die Straße gemacht ist, denn sie
setzt das Vulgär-Sein mit so viel Lust und
Augenzwinkern in Szene, missbraucht des
Glanzes mit soviel Naivität, kleckert mit allen
Regenbogenfarben, erfindet solch herzerfrischende,
ausgefallene und überraschende
Kombinationen, dass auch der schlechteste
Geschmack liebenswert wird, zum Spiel, reines
Vergnügen, fast kindlich. Manchmal scheint mir,
bitte verzeihen Sie mir zum zweiten Mal, als ob
der Karneval hier im Norden, oder besser die
zwei „Bois“, (legendäre Figuren der Folklore,
Ochsen Caprichoso oder Garantido, die bei
einem farbenprächtigen Volksfest in Parintins
gegeneinander kämpfen), immer präsent sind,
jeden Tag ein wenig. Und schon erwische ich
mich dabei, wie ich angesteckt werde, ein
Schleifchen hier, einen Strass da, aber unglücklicherweise
reicht auch das nicht, um meine
„Gringuez“, mein Ausländersein zu vertuschen,
was es aber nicht weniger vergnüglich macht.
Die Schaufenster, eine Welt für sich, halten mit.
Am tollsten finde ich die, die nicht mal Scheiben
haben. Dreißig, vierzig identisch kopflose
Puppen, Hals, Brust, Hüften und mehrheitlich
nackte Beine, ein stummes, erstarrtes Ballett,
sind einfach außerhalb des Geschäftes hoch
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