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Amazonien - ein Foto- und Lesebuch - Susanne Gerber-Barata

Foto- und Lesebuch über den brasilianischen Amazonas

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Remoso <strong>und</strong> andere Tabus<br />

M<strong>ein</strong>e Schwiegermutter, Gott sei ihrer Seele<br />

gnädig, wurde uralt. Aber sie schien ständig an<br />

etwas zu leiden. Und sie war voller Tabus,<br />

ständigem Nicht-Dürfen, besonders wenn es ums<br />

Essen ging. Schokolade zum Beispiel, gab ihr<br />

dummerweise Durchfall. Berühmt war ihr “Peixe<br />

de doente”, der Fisch für Kranke, <strong>ein</strong> Fisch,<br />

natürlich nur <strong>ein</strong>er mit Schuppen, sehr schonend<br />

<strong>ein</strong>zig mit <strong>ein</strong> paar aromatischen Kräutern gegart.<br />

(Es wird hier im Norden zwischen Fischen mit<br />

Schuppen <strong>und</strong> solchen mit dicker Lederhaut<br />

unterschieden.) Fische mit Lederhaut, “Peixes de<br />

couro” gelten als “remoso”, <strong>ein</strong>e Art Tabu.<br />

Speisen, die “remoso” sind, dazu gehören auch<br />

Krustentiere, verschlimmern etwelche, schon<br />

vorhandenen Leiden, Allergien oder Anfälligkeiten<br />

im Körper <strong>und</strong> sollten von allen, die sich nicht<br />

perfekt ges<strong>und</strong> fühlen, gemieden werden. Stellt<br />

man sich gegen das Gebot, kann das schlimme,<br />

gar tödliche Folgen haben. Denn wahr, erf<strong>und</strong>en<br />

oder überliefert – Essentabus sind <strong>ein</strong> Wissen, das<br />

sich unserer Zivilisationsignoranz entzieht. Eine<br />

Weisheit, die ich respektiere.<br />

Irgendwann holen auch mich die Tabus, <strong>ein</strong>e<br />

komplizierte Reihe von Geboten <strong>und</strong> Verboten,<br />

r<strong>und</strong> ums Essen, <strong>ein</strong>. Beim Mittagessen entspinnt<br />

sich über m<strong>ein</strong>en Kopf hinweg folgendes<br />

Gespräch. Alle sind sich <strong>ein</strong>ig: “Heute muss sie auf<br />

den Mangosaft verzichten!” Zum Nachtisch gibts<br />

nämlich Açaí. Zucke die Schultern <strong>und</strong> schicke<br />

mich höflich ins Unwiderrufliche. Mango <strong>und</strong><br />

„Açaí“, das weiß hier jedes Kind, vertragen<br />

sich nicht! Bilden <strong>ein</strong>e absolut tödliche<br />

Kombination, wenigstens für die Einheimischen<br />

oder für die, die daran glauben. Schon steht die<br />

schwarze Halbkalebasse vor mir. „Açaí“. Die<br />

dickflüssige Creme dunkelroter Farbe schmeckt<br />

leicht rauchig, fruchtig, fremd.<br />

Wahrsch<strong>ein</strong>dlich kennen alle Völker<br />

Ernährungstabus. Hier im Amazonas treffen wir<br />

auf die Spuren so ganz unterschiedlicher Kulturen<br />

wie die der Indigenen, der Portugiesen, <strong>ein</strong> Teil<br />

davon geflohne Juden, zum Christentum<br />

konvertiert, der Libanesen <strong>und</strong> der Leute aus dem<br />

Brasilianischen Nordosten, die sich in <strong>ein</strong>em<br />

unerwarteten Schmelztiegel mischen. Wahr oder<br />

nicht, bewiesen oder nur geglaubt, aus<br />

Beobachtungen abgeleitet oder aus religiösen<br />

Gründen etabliert, in alle ihren Tabus liegt wohl<br />

<strong>ein</strong> Korn Wahrheit.<br />

Ironischerweise gesellen sich zu den überlieferten<br />

Tabus neuere, von modernen Medien fabrizierte.<br />

Sie verkörpern wohl Fortschritt <strong>und</strong> Moderne.<br />

Butter ist in ganz Brasilien verpönt, als unges<strong>und</strong><br />

verschrien. Wurde durch die ach so viel gesündere<br />

<strong>und</strong> natürlich auch viel billigere Margarine oder<br />

noch Schlimmeres ersetzt. Bei der Milch habe ich<br />

die Wahl zwischen flüssiger Milch <strong>und</strong> Milch in<br />

Pulverform. In vielen Haushalten kommt nur die<br />

ach so praktische Pulvermilch auf den Tisch. Und<br />

auch ohne die stark gezuckerte Kondensmilch<br />

überlebt hier k<strong>ein</strong>er. Nur dem Zucker wird hier<br />

noch unverblümter, in geradezu unanständigen<br />

Mengen zugesprochen.<br />

Wie man <strong>ein</strong> Tabu auch ganz listig zu s<strong>ein</strong>en<br />

Gunsten auslegen kann, erklärte mir kürzlich <strong>ein</strong>e<br />

Wissenschaftlerin. Sie besucht aus beruflichen<br />

Gründen immer wieder indigene Stämme. Isst<br />

da, die Höflichkeit gebietet das, was in <strong>und</strong> aus<br />

den Töpfen kommt. Das kann auch mal <strong>ein</strong> Affe<br />

s<strong>ein</strong>. Indigene Stämme glauben fest daran, dass<br />

wir alle von irgend<strong>ein</strong>em Tier abstammen. Das<br />

Tier, von dem man abstammt, ist allerdings tabu.<br />

Man darf es nicht essen. Man ist ja k<strong>ein</strong> Kanibale.<br />

Unsere Wissenschaftlerine erklärt nun immer<br />

ganz zu Anfang, dass sie vom Affen abstamme.<br />

Bekommt deshalb glücklicherweise alles<br />

mögliche, nur k<strong>ein</strong>e Affen vorgesetzt. K<strong>ein</strong>er<br />

würde ihr zumuten, dass sie <strong>ein</strong>en ihrer<br />

Vorfahren oder Verwandten verspiese! Bedauern<br />

höchstens, dass sie das für sie tabuisierte<br />

Festmahl, leider, leider, wie schade, nicht teilen<br />

kann!<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 745

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