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Amazonien - ein Foto- und Lesebuch - Susanne Gerber-Barata

Foto- und Lesebuch über den brasilianischen Amazonas

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Urbe Amazonas<br />

Still <strong>und</strong> leise, von der Welt <strong>und</strong> vom restlichen<br />

Brasilien fast unbemerkt, verwandelt sich<br />

<strong>Amazonien</strong>. Die Wildnis wird immer urbaner. Ein<br />

überaus rascher, unkontrollierter Verstädterungsprozess<br />

ist im Gang <strong>und</strong> sorgt für<br />

tiefgreifende Veränderungen. Heute lebt um die<br />

80 % der amazonischen Bevölkerung in urbanen<br />

Zentren. Und sie lebt schlecht. Vegetiert irgendwo<br />

am Rande der Geschichte. Eine große Reportage,<br />

<strong>ein</strong> aktuelles Porträt des Tropenwaldes, des<br />

Estado de São Paulo, <strong>ein</strong>er renommierten Zeitung<br />

titelt: Favela Amazônia. Die Reportage geht noch<br />

tiefer. Ein Drittel der lokalen Bevölkerung lebe in<br />

Gebieten, die die Menschenrechte missachten<br />

oder vom Drogenhandel kontrolliert würden.<br />

Zwar war es seit der Kolonisation so, dass den<br />

Städten <strong>ein</strong>e strategische Funktion zukam, wenn<br />

es galt, sich den Tropenwald anzueignen. Neu ist<br />

aber die Attraktion, die die Städte auch auf jene<br />

Unsichtbaren ausüben, Indigene <strong>und</strong> andere, die<br />

früher weitab im Wald ihr Leben fristeten. Deren<br />

Kinder <strong>und</strong> Kindeskinder ziehen an die<br />

Peripherien auf der Suche nach <strong>ein</strong>em besseren<br />

Leben. Sie lassen alles zurück, entwurzeln sich,<br />

wie schon so viele vor ihnen. Bekommen wenig<br />

oder gar nichts als Gegenleistung für <strong>ein</strong>e ganze<br />

Kultur, die unterschiedlichsten Gewohnheiten, die<br />

sie hinter sich gelassen haben. Einmal in der<br />

Stadt, sind sie mit Armut <strong>und</strong> Gewalt konfrontiert,<br />

bezahlen <strong>ein</strong>en hohen Preis.<br />

Die Städte ihrerseits, entstanden aus purer<br />

Notwendigkeit, folgen weder gesetzlichen Normen<br />

noch städtebaulichen Vorschriften. Es sind Städte<br />

wie Santarém, wo jede dritte Querstraße mitten<br />

im Zentrum, beim Bürgermeisteramt gleich um die<br />

Ecke, auf <strong>ein</strong>e f<strong>ein</strong>e Decke Asphalt wartet <strong>und</strong><br />

viele Einwohner noch immer ohne Trinkwasser<br />

sind. Oder wie Belém, wo die offenen Abwasserkanäle<br />

voller Favelas, bunt gemischt mit Luxushochhäusern<br />

zum Himmel stinken. Ein altbekanntes<br />

Problem. Infrastruktur, die man nicht<br />

sieht, die irgendwo im Boden <strong>ein</strong>gegraben wird, ist<br />

generell bei Politikern unbeliebt. Die lassen sich so<br />

schlecht vorzeigen…. Nach wie vor gilt es in<br />

Brasiliens Norden als <strong>ein</strong> Kavaliersdelikt, von der<br />

Mehrheit der Hausbesitzer praktiziert, s<strong>ein</strong> Haus,<br />

s<strong>ein</strong> Gr<strong>und</strong>stück nicht ins Gr<strong>und</strong>buch <strong>ein</strong>zutragen<br />

<strong>und</strong> dadurch auch k<strong>ein</strong>e Gr<strong>und</strong>stücksteuer zu<br />

bezahlen.<br />

Die Liste ist endlos <strong>und</strong> die Ursachen für die<br />

Miserie so komplex wie vielfältig. Nur wer<br />

tagtäglich mit jenen „Vergessenen“ in Kontakt<br />

kommt, kann ahnen, was es bedeutet, theoretisch<br />

zwar <strong>ein</strong>e Schule besucht zu haben, in der Praxis<br />

aber so gut wie nichts gelernt zu haben. Kann aber<br />

auch den Professor verstehen. S<strong>ein</strong>e Autorität<br />

wird weder von den ihm übergeordneten Organen<br />

noch von den Studenten respektiert. Hinter den<br />

Kulissen ziehen obskure Gewerkschaften <strong>und</strong><br />

Interessenverbände die Fäden oder wie man hier<br />

sagt die Sardinen auf ihre Glut hinüber. Man<br />

muss k<strong>ein</strong>e Statistik lesen, um zu sehen, was das<br />

für junge Leute bedeutet. Wie <strong>ein</strong>fach ist es, sich<br />

in Alkohol oder Drogen zu flüchten oder gar in<br />

<strong>ein</strong>e Kinderehe. Der Staat Pará hat <strong>ein</strong>e der<br />

höchsten Raten von Kindern die Kinder<br />

bekommen. Für viele Mädchen, Teenager noch,<br />

ist das Kinderkriegen <strong>ein</strong> Weg, aus <strong>ein</strong>em<br />

Zuhause zu flüchten, das sie als Hölle empfinden.<br />

Ein Weg, der sich natürlich sehr schnell als<br />

Sackgasse entpuppt. Damit aber die ewige<br />

Spirale intakt halten. Ein Kind, in solchen<br />

Verhältnissen aufgewachsen, ist fast dazu<br />

verdammt, da capo, später alles genauso zu<br />

wiederholen.<br />

Eine Gesellschaft, in der sich die Allersensibelsten<br />

in den Tod flüchten, weil sie gar k<strong>ein</strong>e Zukunft für<br />

sich sehen. Andere werden von wütenden<br />

Nachbarn nackt ausgezogen <strong>und</strong> dann brutal<br />

verprügelt. Währen wohl gar gelyncht worden,<br />

hätte nicht <strong>ein</strong>e andere Nachbarin <strong>ein</strong>gegriffen.<br />

Und all das nur wegen <strong>ein</strong>es Baumes, dessen<br />

Blätter den Nachbargarten „verunr<strong>ein</strong>igte“.<br />

Explosionen, die von Druck zeugen, der von der<br />

Armut kommt <strong>und</strong> vom Zu-Nahe-Zusammen<br />

leben, von der jahrh<strong>und</strong>ertealten Ungerechtigkeit<br />

genauso wie von der kulturellen<br />

Rücksichtslosigkeit <strong>und</strong> Nichtachtung, mit der<br />

hier die Menschen behandelt werden. Auch von<br />

jenen Intellektuellen, die es ja so gut m<strong>ein</strong>en.<br />

<strong>Amazonien</strong>, <strong>ein</strong> <strong>Foto</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lesebuch</strong> - <strong>Susanne</strong> <strong>Gerber</strong>-<strong>Barata</strong> 861

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