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Bieler Jahrbuch 2007 - mémreg - regionales Gedächtnis

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4<br />

Jörg Steiner.<br />

Foto: Heini Stucki<br />

Auf DVD<br />

Jörg Steiner liest seinen Text<br />

«Maries Traum vom Stammtisch»<br />

im Bahnhofbuffet Biel,<br />

illustriert mit Impressionen<br />

aus dem Lokal.<br />

Bild und Ton: Peter Fasnacht.<br />

Copyright memreg<br />

aber an den Stammtisch setzten sie sich nicht. Ohne<br />

Dragi, ohne die Kellnerin Dragi, wäre der Stammtisch<br />

in Bergen kein Stammtisch gewesen.<br />

Auf dem Tisch stand ein mächtiger, aus Eisen<br />

geschmiedeter Aschenbecher, der auf keinen Fall<br />

benutzt werden durfte – ein Fetisch. Ohne ihn wäre<br />

der Stammtisch kein Stammtisch gewesen.<br />

Aschenbecher ist ein eigenartiges Wort, französisch<br />

«cendrier»:<br />

Marie weiss das.<br />

Marie fragte nach den Regeln, die zu einem Fetisch<br />

gehören, und tatsächlich war es so, dass jeder<br />

Stammgast, wenn er die «Alte Post» betreten hatte,<br />

mit der Faust auf den Tisch klopfte, bevor er sich<br />

hinsetzte, auf seinen Stuhl, auf den ihm allein vorbehaltenen<br />

Stuhl. Ohne die ungeschriebenen Gesetze<br />

und Vorschriften wäre der Stammtisch kein Stammtisch<br />

gewesen.<br />

Die wichtigste Regel wurde mir, als ich zum ersten<br />

Mal der Einladung, Platz zu nehmen, gefolgt war,<br />

sogleich als verbindlich für aIle Anwesenden mitgeteilt:<br />

Über Politik durfte am Stammtisch nicht<br />

gesprochen werden; Politik war tabu.<br />

Ich verstand das erst später, als ich mit den einzelnen<br />

Gästen wirklich bekannt geworden war und sie<br />

Vertrauen zu mir gefasst hatten: Die Regel, nicht<br />

über Politik zu sprechen, hatte mit der schmerzhaften<br />

Trauerarbeit zu tun, die nie zur Sprache gekommen<br />

war – der Trauerarbeit über die unaufgedeckte<br />

Vergangenheit in der Zeit des Nationalsozialismus.<br />

Die Leute in Bergen waren sehr freundlich. Das<br />

Schweigen dort gehörte zu ihrem Stammtisch wie<br />

zu anderen Stammtischen das Schimpfen gehört.<br />

Marie wollte mehr darüber wissen, hatte weitere<br />

Fragen; ich versuchte, sie davon abzubringen. Nein,<br />

in Biel wollte ich keinen Stammtisch gründen und<br />

auch an keinem schon gegründeten teilnehmen. Ich<br />

traf mich mit Bekannten und Freunden zum Aperitif,<br />

das war so – aber nicht an einem Stammtisch.<br />

Jeder, der wollte, setzte sich zu uns, und jeder, der<br />

wollte, konnte wieder weggehen – das hatte keine<br />

Bedeutung, es war einfach so.<br />

Aber Sie kennen Marie, wie gesagt. Sie schaut einen<br />

an, und ihr Hund schaut einen an, beide mit dem<br />

genau gleichen Blick, neugierig, erwartungsvoll –<br />

und dann redet man weiter, man redet sich um Kopf<br />

und Kragen. Der Stammtisch und der Stammbaum<br />

haben etwas miteinander zu tun, sagt man zu dem<br />

Hund, und so siehst du auch aus, hungrig nach<br />

Zärtlichkeiten wie ein Strolch, ein Herumtreiber,<br />

ein Heimatloser.<br />

Marie spricht Deutsch langsamer als Französisch,<br />

ein bisschen langsamer. Sie spricht auch Mundart,<br />

aber die Wörter, die es in ihrer Muttersprache nicht<br />

gibt, bleiben ihr fremd. Man kann mit ihr darüber<br />

streiten, warum der deutsche Mond männlich ist<br />

und warum «danger de mort» nicht dasselbe ist wie<br />

«Lebensgefahr».<br />

Erklären kann man es nicht: fertig mit Heimweh,<br />

fertig mit Stammtisch.<br />

Die Wörter der lebendigen Sprachen haben etwas<br />

Unzugängliches, das in ihnen leuchtet wie die farbigen<br />

Bänder im Inneren einer Marmelkugel aus Glas.<br />

In der Strasse meiner Kindheit nannte man diese<br />

Kugel «Glesüür».

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