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Vorwort - Fritz Thyssen Stiftung

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Seite 122<br />

GESCHICHTE, SPRACHE UND KULTUR<br />

entstanden ist („Sitz von Literatur im Leben“). Zum anderen sollen<br />

deren Formen, rhetorische Verfahren und Kunstmittel und immanente<br />

Poetik analysiert werden.<br />

Anstatt der in der Literaturwissenschaft bisher gängigen Opposition<br />

zwischen „Gelehrtenliteratur“ versus „Volks-“ und „populäre Literatur“<br />

wird dafür ein Milieu-Modell angewandt, das auf sozial- und<br />

bildungsgeschichtlichen Quellen basiert und eine angemessenere<br />

Binnendifferenzierung auch nicht-intellektueller Autorenkreise erlaubt:<br />

darin werden Milieus durch eine Vielzahl korrelierter Elemente<br />

(neben Geburts- und Rechtsstand auch Konfession und Bildungsgang,<br />

Beruf und Status, Vermögen, soziale Loyalitäten etc.) bestimmt<br />

und ihre verschiedenen Stufungen der Teilhabe an der „Bildungstradition“,<br />

d.h. den akademisch vermittelten Wissensinhalten und<br />

Formvorschriften, ermittelt. Indem dieser Ansatz relativ direkte<br />

Interdependenzen zwischen Rhetorizität der Texte und außerliterarischen<br />

sozialen Kontexten aufzudecken erlaubt, kann ein Bild mehrerer<br />

„literarischer Kulturen“ entwickelt werden, welche in einer<br />

komplexen historischen Gemengelage nebeneinander existieren<br />

und jeweils über eine eingrenzbare Trägerschicht und bestimmte<br />

Geltungsbereiche verfügen.<br />

Da die Untersuchung auf eine gewisse Überlieferungsdichte entsprechender<br />

literarischer Werke angewiesen ist und andererseits<br />

umfangreiche literaturexterne Kontexte (Sozial-, Bildungs-, Druckund<br />

Distributionsgeschichte etc.) einbeziehen muss, ist aus Gründen<br />

der Arbeitsökonomie ein exemplarisches Vorgehen geboten. In geographischer<br />

Hinsicht bietet es sich an, die Reichsstadt Nürnberg zu<br />

fokussieren, die im 17. und 18. Jahrhundert ein Wirtschaftszentrum<br />

mit breitem Handelsbürgertum und einer geistig interessierten<br />

Handwerkerschaft war und im frühen 19. Jahrhundert zum Motor<br />

der Industrialisierung in Bayern wurde. Anders als in vergleichbaren<br />

Städten (etwa Frankfurt, Regensburg oder Ulm) ist hier die Überlieferung<br />

des einschlägigen Materials außerordentlich reichhaltig.<br />

Zeitlich wird die Untersuchung auf das frühe 17. Jahrhundert bis zur<br />

Mitte des 19. Jahrhunderts eingegrenzt. Denn im 16. Jahrhundert<br />

lässt sich eine bildungsferne Literaturproduktion nur schwer greifen;<br />

im 17. Jahrhundert nimmt dagegen die Überlieferungsdichte merklich<br />

zu (u.a. aufgrund einer Intensivierung der Lese- und Schreibfähigkeit<br />

und einer Erweiterung des literarischen Publikums). Im<br />

Laufe des 19. Jahrhunderts erfolgt ein neuerlicher Umbruch, der es<br />

sinnvoll macht, die Untersuchung hier enden zu lassen: denn die<br />

Zurückdrängung der antiken Bildungstradition als zentralem Wertmaßstab,<br />

der Umschwung zu einer Gefühlsästhetik, welche die<br />

subjektive Befindlichkeit des jeweiligen Autors priorisiert, zudem<br />

verbesserte Publikationsmöglichkeiten, die „Explosion“ des Lesepublikums<br />

und die zeitweilige Politisierung bestimmter literarischer<br />

Strömungen schaffen die Grundlage für eine Kanonisierung auch<br />

von Literatur, die abseits der Bildungstradition entsteht.

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