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Vorwort - Fritz Thyssen Stiftung

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GESCHICHTSWISSENSCHAFTEN<br />

Am 18. Dezember 2003 hielt der Historiker Anson Rabinbach von der<br />

Universität Princeton vor einer großen Zuhörerschaft die vierte<br />

Simon-Dubnow-Vorlesung mit dem Titel „Raphael Lemkin und der<br />

Begriff vom Genozid“. Anson Rabinbach lehrt als Professor für Zeitgeschichte<br />

an der Universität Princeton und ist Direktor des Instituts<br />

für European Cultural Studies. Er ist einer der führenden Historiker<br />

auf dem Gebiet der Kultur- und Geistesgeschichte Europas in der<br />

Moderne, dessen weit gespannte Erkenntnisinteressen nationalgeschichtliche<br />

Paradigmen transzendieren.<br />

In der Simon-Dubnow-Vorlesung griff Rabinbach einen zentralen<br />

Aspekt seiner aktuellen Forschungen auf. Sein Vortrag behandelte<br />

die Prägung des Begriffs „Genozid“ durch den polnisch-jüdischen<br />

Juristen Raphael Lemkin (1901-1959). Vor dem Hintergrund der<br />

Massenmorde in Ruanda sowie der Politik gezielter „ethnischer Säuberungen“,<br />

etwa im Jugoslawien-Konflikt, haben der Begriff des<br />

„Völkermords“ und die damit verbundenen völkerrechtlichen Konzepte<br />

in den letzten Jahren in der öffentlichen Diskussion eine verstärkte<br />

Beachtung erfahren. Wie Rabinbach schilderte, hatten die<br />

Vereinten Nationen bereits 1948, nicht zuletzt aufgrund Lemkins Engagements,<br />

eine Völkermordkonvention verabschiedet. Die USA<br />

weigerten sich jahrzehntelang, die Konvention zu ratifizieren; angesichts<br />

des offenen Rassismus vor allem in den Südstaaten spielten<br />

dabei auch innenpolitische Erwägungen eine Rolle. Die Ratifizierung<br />

erfolgte erst nach Ronald Reagans viel kritisiertem Besuch in Bitburg<br />

1985, fast genau 50 Jahre nach der ursprünglichen Verabschiedung<br />

der Konvention, fällte das Internationale Kriegsverbrechertribunal für<br />

Ruanda in Arusha erstmals ein Urteil nach der UN-Völkermordkonvention.<br />

Die Geschichte de Begriffs „Genozid“ lässt sich in die Zwischenkriegszeit<br />

zurückverfolgen, in eine Phase tief greifender politischer<br />

und geistiger Krisen in der Folge des Zusammenbruchs der großen<br />

Imperien in Europa. Rabinbach arbeitete die Verknüpfung der Begriffsgenese<br />

mit Lemkins Biographie heraus. Raphael Lemkin, 1901<br />

in Ostpolen geboren, war seit 1929 Staatsanwalt in Warschau. Seit<br />

seinem Studium in Lodz und Heidelberg beschäftigte er sich wissenschaftlich<br />

mit völkerrechtlichen Fragen. Als im September 1939<br />

Deutschland Polen überfiel, floh er zunächst nach Riga. Rabinbach<br />

zitierte in seinem Vortrag aus den ungedruckten Memoiren Lemkins,<br />

in denen dieser von einem Gespräch mit Simon Dubnow in dessen<br />

Rigaer Wohnung über die den Juden drohende Katastrophe berichtet.<br />

Von Riga gelangte Lemkin über Schweden in die USA. Fast alle seine<br />

Angehörigen fielen der Shoah zum Opfer. In den USA publizierte<br />

Lemkin 1944 die viel beachtete Studie Axis Rule in Occupied Europe,<br />

in der er den Begriff des Genozids entwickelte. Lemkin unterstrich<br />

zwar, dass die Juden „eine der wichtigsten Zielgruppen deutscher<br />

Genozidpolitik“ waren, stellte aber ihr Schicksal neben die Leiden<br />

des polnischen Volkes, das, wie er annahm, ebenfalls vernichtet worden<br />

sollte, sowie neben das Los anderer Minderheiten, deren rechtlicher<br />

Status in den Friedensverträgen nach dem Ersten Weltkrieg<br />

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