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Vorwort - Fritz Thyssen Stiftung

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GESCHICHTSWISSENSCHAFTEN<br />

Die 1918 ausgerufene Republik Polen war ein Vielvölkerstaat, in dem<br />

über dreißig Prozent der Bevölkerung den nationalen Minderheiten<br />

angehörten. Die Zahl der jüdischen Bevölkerung in Polen betrug im<br />

Jahre 1939 über 3,4 Mio. und bildete einen Anteil von etwa zehn<br />

Prozent der Gesamtbevölkerung. Die ersten antijüdischen Parolen in<br />

der polnischen Publizistik des 20. Jahrhunderts verkündete Roman<br />

Dmowski, der führende Ideologe, Schöpfer des polnischen Nationalismus<br />

und Gründer der polnischen Nationalen Partei, bereits im Jahre<br />

1912. In den darauf folgenden Jahren formulierte Dmowski das<br />

Programm des polnischen Antisemitismus in vielen Publikationen,<br />

vor allem in seinem Buch „Die Nachkriegswelt und Polen“ (1931) und<br />

in einer Reihe von Presseartikeln unter dem Titel „Der Umbruch“<br />

(1934). Seine Meinungen zur jüdischen Frage hatten einen entscheidenden<br />

Einfluss auf die Mitglieder und Anhänger des so genannten<br />

„Nationalen Lagers“, dem die meisten nationalistischen und rechtsradikalen<br />

Gruppierungen und Parteien angehörten. Die Grundlage<br />

des Antisemitismus des Nationalen Lagers bildete die Überzeugung<br />

von der angeblichen wirtschaftlichen Expansion der jüdischen Bevölkerung,<br />

der zufolge die Polen von ihren Arbeitsplätzen verdrängt<br />

wurden.<br />

Anfang der dreißiger Jahre nahm die antijüdische Propaganda im<br />

oppositionellen Nationalen Lager an Intensität immer mehr zu und<br />

eskalierte in vielen Zwischenfällen und Ausschreitungen gegen die<br />

jüdischen Mitbürger. So wurden z.B. die Universitäten in Warschau,<br />

Krakau, Lemberg und Wilna zum Schauplatz erbitterter Auseinandersetzungen<br />

zwischen den nationaldemokratischen sowie den sozialistischen<br />

und jüdischen Studentenorganisationen um die Einführung<br />

eines Numerus clausus und eines Sitzbänkeghettos in den Hörsälen.<br />

Der Antisemitismus der Nationaldemokraten wurde auch tatkräftig<br />

durch einige hohe kirchliche Würdenträger und durch den katholischen<br />

Klerus unterstützt, insbesondere durch zahlreiche Geistliche,<br />

die der Nationalen Partei nahe standen.<br />

Die polnische Regierung und vor allem Marschall Pilsudski nahmen<br />

zum Antisemitismus der Nationaldemokratie zunächst eine ablehnende<br />

Haltung ein. Pilsudski wollte mit seiner Konzeption einer staatlichen<br />

Loyalität, die im krassen Gegensatz zum Nationalstaat der<br />

Endecja stand, alle Minderheiten an dem Aufbau eines starken, multinationalen<br />

Staat teilnehmen lassen. Die Eskalation des politischen<br />

Kampfes der Opposition nach dem Tode Pilsudskis im Mai 1935, aber<br />

auch die Radikalisierung der jungen Generation im Regierungslager<br />

der „Sanacja“ sowie der Einfluss des Nationalsozialismus auf die<br />

politische Machtsysteme in Polen waren die Hauptursache für die<br />

Wende der Regierung nach rechts. Offiziell hatte sich zwar die Einstellung<br />

der Regierung zum Antisemitismus nicht geändert, aber seit<br />

1937 wurden die Überlegungen zu Möglichkeiten und Formen einer<br />

organisierten Emigration der Juden aus Polen intensiviert.<br />

Der Antisemitismus fand in der Zwischenkriegszeit einen günstigen<br />

Nährboden in Polen. Er war ein integraler Bestandteil der Identitäts-<br />

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