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Vorwort - Fritz Thyssen Stiftung

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SPRACH- UND LITERATURWISSENSCHAFTEN<br />

der überkreuzender performativer und repräsentativer Strebungen<br />

zu beschreiben ist; also als die unablässige Verflechtung von Handlungssequenzen<br />

mit Passagen von Deutung und Bedeutungsstiftung<br />

– mithin als eine Art verstörter Metapoesie. Denn Kafkas ganze<br />

Aufmerksamkeit richtet sich auf die paradoxe Verquickung von Anfängen<br />

mit deren fortgesetzter, unaufhaltsamer Korrosion; auf das<br />

Spiel zwischen Handeln und Bedeutungsakt, zwischen Bewegung<br />

und Stillstand also, welches Kafka selbst einmal mit der Formel vom<br />

„stehenden Sturmlauf“ bezeichnet hat. Kafkas Texte hören nicht auf,<br />

die Erfahrung der gleichzeitigen Notwendigkeit und Unmöglichkeit<br />

von Anfängen zu umspielen: dem Anfang des Lebens, dem Anfang<br />

der Kultur, dem Anfang des Subjekts, dem Anfang der Mythologie,<br />

dem Anfang des Handelns und dem Anfang des Schreibens. In<br />

diesem einzigartigen Werk werden nicht Geschichten geschrieben,<br />

sondern die Lücken aufgefasst und transzendiert, die sich in ihnen<br />

öffnen. Kafkas „Werk“, dessen Schriftspuren auf der Grenze zwischen<br />

Aufzeichnung und Löschung verlaufen, kann so in der Tat als<br />

eine negative Metapoetik bezeichnet werden, als das Schreiben über<br />

die Unmöglichkeit von Schreiben.<br />

Diesem aus den Texten Kafkas gewonnenen komplexen Befund<br />

kann keine Chronik, keine Biographie, keine Sequenz exemplarischer<br />

Interpretationen und auch keine geistesgeschichtlich orientierte<br />

Monographie allein gerecht werden. Vielmehr scheint es nötig,<br />

Kafkas Schreiben, das als ein Handeln und ein Sinngeben zugleich<br />

verstanden wird, als eine Ethnographie der eigenen Kultur zu lesen,<br />

sie in ihrem befremdeten Blick auf das Eigene zu begreifen; dem<br />

Blick, der dem Rätsel der Verkeilung von Statik und Dynamik im<br />

Prozess der Kultur gilt. Es ist eine neue Form literarischer Darstellung,<br />

mit deren Hilfe das Stocken des „Prozesses“ und der nie endende<br />

Aufschub des „Urteils“ in Szene gesetzt werden.<br />

Angesichts dieser Situation sollen nun in einer umfassenden Darstellung<br />

des „Phänomens“ Kafka als eines „Phänomens“ der<br />

Moderne schlechthin die folgenden drei Aspekte miteinander in Beziehung<br />

gesetzt werden: die kulturanthropologische Dimension; die<br />

minuziöse Interpretation der Leitszenarien von Kafkas Schreiben, die<br />

die Spannung zwischen Performanz und Repräsentation vor Augen<br />

stellen – der publizierten wie der zu Lebzeiten des Autors unveröffentlichten<br />

literarischen Texte, aber auch der Tagebücher und Briefe<br />

–; sowie zuletzt eine Einbettung dieser beiden Momente in eine<br />

Rekonstruktion der kulturhistorischen Situation, aus der heraus dieses<br />

Œuvre entstanden ist. Als maßgebliche Einflussfaktoren sind hier<br />

zu berücksichtigen: die Prager deutsche Literatur, die Geschichte des<br />

Judentums, die soziale und politische Lage Böhmens, die Kultur und<br />

Subkultur des „europäischen Mittelpunktes“ Prag zu Beginn des<br />

20. Jahrhunderts. Methodisch will das Projekt eine literarhistorische<br />

Perspektive mit einem diskursanalytischen Ansatz sowie sozialpsychologischen<br />

Verfahren und einer kultursemiotischen Arbeitsweise<br />

verbinden: also Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft<br />

verstehen.<br />

Seite 127

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