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Vorwort - Fritz Thyssen Stiftung

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Simon-<br />

Dubnow-<br />

Vorlesung<br />

Seite 70<br />

GESCHICHTE, SPRACHE UND KULTUR<br />

Das Forschungsvorhaben soll zum einen die noch sehr verstreut vorliegenden<br />

Forschungsergebnisse bündeln, zum anderen durch die<br />

systematische Auswertung von bisher vernachlässigten Quellen den<br />

Forschungsstand vorantreiben. Die Recherche wird dabei bewusst<br />

auf zeitgenössische Dokumente konzentriert. Quellen, die nach 1945<br />

entstanden sind, werden – wie auch Zeitzeugenbefragungen – erst in<br />

zweiter Linie berücksichtigt. Im Zentrum der systematischen Recherchen<br />

stehen Ermittlungsakten der Gestapo und Justiz. Erst nachrangig<br />

werden weitere Quellengruppen hinzugezogen (Lageberichte,<br />

Verordnungen, Zeitungsartikel, alliierte Rundfunksendungen etc.).<br />

Die Auswertung konzentriert sich vor allem auf Äußerungsdelikte<br />

(„Heimtücke“, „Wehrkraftzersetzung“, „Rundfunkverbrechen“, „Grober<br />

Unfug“). Sie bieten den besten Einblick in die subjektive Haltung<br />

der Bevölkerung im Hinblick auf den Judenmord. Ins Blickfeld geraten<br />

durch diesen Zugriff Bevölkerungskreise, die bisher weitgehend,<br />

fernab von Schlüsselstellungen und literarischen Selbstdarstellungen,<br />

im „sozialen Dunkelfeld“ ausgeblendet worden sind. Neben<br />

Äußerungsdelikten finden auch Verfolgungsvorgänge Beachtung,<br />

sofern sie Hinweise auf den Kenntnisstand der Bevölkerung im Dritten<br />

Reich enthalten. Dies gilt vor allem für „Rassenschandedelikte“<br />

oder „Judenhilfe“. Kernfrage dieser Analyse der Quellen wird sein,<br />

inwieweit die in den vorliegenden Einzelfällen festgestellten Äußerungen<br />

und Haltungen Hinweise auf die allgemeine Rezeption des<br />

Genozids in der deutschen Bevölkerung zulassen.<br />

Die Recherchen sind noch nicht abgeschlossen. Schon jetzt jedoch,<br />

nachdem tausende Dokumente in über dreißig in- und ausländische<br />

Archiven ausgewertet worden sind, kann folgendes festgestellt werden:<br />

Schon bald nach dem Überfall auf die Sowjetunion und den<br />

Massenmorden der Einsatzgruppen und Polizeibataillone an jüdischen<br />

Männern, Frauen und Kindern, drangen erste Nachrichten<br />

über die Geschehnisse ins Reichsgebiet. Die Dichte der Meldungen<br />

über das Schicksal der osteuropäischen und der deportierten Juden<br />

verstärkte sich vor allem seit Herbst 1942 immer mehr. Nicht zuletzt<br />

vor dem Hintergrund der sich verschlechternden Kriegslage wurden<br />

im Laufe des Jahres 1943 in allen Regionen und allen Milieus Gerüchte<br />

über den Genozid an den Juden zumeist zunehmend besorgt aufgenommen<br />

– man fürchtete die Rache der Alliierten und des von der<br />

NS-Propaganda als deren „Hintermann“ dargestellten „Weltjudentums“.<br />

Dieser Prozess verstärkte sich weiter bis zum Spätsommer<br />

1943, als an dem Wahrheitsgehalt der umgehenden Gerüchte über<br />

die Verbrechen „im Osten“ immer weniger gezweifelt werden konnte.<br />

Nun schon – nicht erst 1945 –, das zeigen erste Forschungsergebnisse,<br />

begann der Versuch der Deutschen, die unangenehmen Realitäten<br />

zu verdrängen.<br />

Mit Unterstützung der <strong>Fritz</strong> <strong>Thyssen</strong> <strong>Stiftung</strong> veranstaltet das Simon-<br />

Dubnow-Institut für jüdische Geschichte und Kultur an der Universität<br />

Leipzig unter der Leitung von Prof. D. Diner (Simon-Dubnow-<br />

Institut, Universität Leipzig) jedes Jahr eine öffentliche Vorlesung<br />

zum Gegenstand seiner Forschungen.

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