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Vorwort - Fritz Thyssen Stiftung

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GESCHICHTSWISSENSCHAFTEN<br />

Es zählt zu den Topoi der modernen Ethikdebatte, dass sich die<br />

schwierigen Fragen des heutigen Umgangs mit Sterbenden vor allem<br />

der modernen, hochtechnisierten Medizin verdanken, die ungeahnte<br />

Möglichkeiten einer künstlichen Lebensverlängerung verfügbar<br />

gemacht hat. Aber so einflussreich dieser technologische Wandel<br />

zweifellos ist, so darf er doch nicht vergessen lassen, dass auch Ärzte<br />

und Laien früherer Jahrhunderte oft mit schwersten und terminalen<br />

Krankheitsfällen konfrontiert waren und dass auch sie grundsätzlich<br />

davon überzeugt waren, dass die verfügbaren Therapien einen entscheidenden<br />

Unterschied machen konnten, da sie wesentlich zur<br />

Heilung betragen, aber möglicherweise auch den Tod beschleunigen<br />

konnten. Die Frage, ob sie in bestimmten schweren Krankheitsfällen<br />

weiterbehandeln sollten oder nicht, ob sie ein stark wirkendes Medikament<br />

oder eine riskante Operation anraten sollten oder nicht, bewegte<br />

auch die Ärzte und Chirurgen früherer Jahrhunderte ständig.<br />

Aus dem gleichen Grund und insbesondere wegen des Fehlens hochwirksamer<br />

Schmerzmittel musste man sich auch mit der Frage der<br />

Sterbehilfe auseinandersetzen. Die Ärzte waren es gewohnt, dass die<br />

Kranken zumindest in den höheren Schichten ihre diagnostischen<br />

und therapeutischen Urteile eingehend diskutieren wollten und gegebenenfalls<br />

in Zweifel zogen.<br />

Zentrales Anliegen des Forschungsvorhabens ist es, Wege zu einer<br />

Alltagsgeschichte der medizinischen Ethik an einem zentralen<br />

medizinethischen Problembereich exemplarisch aufzuzeigen, der<br />

Geschichte des Umgangs mit Schwerkranken und Sterbenden. Die<br />

Fokussierung auf die alltägliche Praxis soll dabei mit dem Versuch<br />

verbunden werden, ethische Konfliktsituationen auch aus der Perspektive<br />

der Kranken und Angehörigen heraus zu begreifen und<br />

ihre subjektiven Erfahrungen jener der Ärzte an die Seite zu stellen<br />

und mit ihnen zu kontrastieren.<br />

Als Quellen sollen dementsprechend in erster Linie erfahrungs- und<br />

praxisnahe Texte dienen, nämlich insbesondere Tausende von brieflichen<br />

Laienkonsultationen und autobiographische Texte aus dem<br />

deutschsprachigen und niederländischen Raum sowie die ausgedehnte<br />

medizinische und chirurgische Kasuistik im zeitgenössischen ärztlichen<br />

Schrifttum. Patientenbriefe verdanken sich in erster Linie der<br />

früher in den höheren Schichten recht verbreiteten Praxis einer brieflichen<br />

Konsultation und schriftlichen Fernbehandlung. Um den abwesenden<br />

Arzt eine fundierte Diagnose zu ermöglichen, beschrieben viele<br />

Kranke nicht nur ausführlich die Beschwerden und den bisherigen<br />

Krankheitsverlauf. Darüber hinaus spiegeln die Patientenbriefe ihrerseits<br />

die Interaktion zwischen Kranken und Ärzten. Der Arzt äußerte<br />

seine Meinung und empfahl eine bestimmte Therapie, die Patienten<br />

oder ihre Angehörigen fragten nach, verwiesen auf die abweichenden<br />

Meinungen anderer, stimmten schließlich zu oder widersetzten sich. In<br />

den ärztlichen Fallgeschichten schilderten die Ärzte das Beschwerdebild,<br />

die jeweiligen Krankengeschichte, die bisherigen Behandlungsversuche<br />

anderer Ärzte und nicht zuletzt das eigene Vorgehen, den<br />

Erfolg oder Misserfolg der eigenen Behandlung. Ergänzend sollen<br />

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