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Vorwort - Fritz Thyssen Stiftung

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Seite 146<br />

GESCHICHTE, SPRACHE UND KULTUR<br />

thematischer Beweisverfahren soll untersucht werden, wie deduktive<br />

Wahrheit auf den Bildflächen der Geometrie erzeugt wird. Eine<br />

entscheidende Rolle spielt dabei das Diagramm, das in der griechischen<br />

Geometrie eine Fortentwicklung erfährt, die es der reinen Anschauung<br />

entreißt und zu einem bildlosen Instrument des Zeigens<br />

und Verweisens macht. Der Fokus des Projektes liegt deshalb auf<br />

dem Verhältnis von Visualität und Bildlosigkeit und auf der Frage,<br />

wie Evidenz und Wahrheit ab 440 v. Chr. so sichtbar im deduktiven<br />

Beweis zu einer Funktion des Bildes werden kann.<br />

Die Entstehung der deduktiven Mathematik verdankt sich im Wesentlichen<br />

einer kulturtechnischen Innovation, einer Kombination<br />

aus Buchstaben und Linien – dem beschrifteten Diagramm. Der<br />

früheste Gebrauch des beschrifteten Diagramms findet sich um 440<br />

v. Chr. in den Möndchenquadraturen des Hippokrates v. Chios. Seit<br />

der Mitte des 5. Jahrhunderts ermöglicht es das beschriftete Diagramm,<br />

Zahlen, Buchstaben und Linien ineinander zu überführen,<br />

Visualität durch den Rückgriff auf Buchstaben und Zahlen bildlos zu<br />

erzeugen. Diese neue Form der Visualität, die nicht mehr allein auf<br />

Anschauung und Anzahlenkunde gründet, ermöglicht eine Technik<br />

des Zeigens und Verweisens, die eng mit den ersten mathematischen<br />

Lehrbüchern, dem Format der Elementbücher (stoicheia) verknüpft<br />

ist. In den „Elementen“ des Euklid erreicht sie vorläufig eine beispiellose<br />

Formalisierung.<br />

Das Projekt wählt deshalb die Verweistechnik der Euklidischen<br />

Elemente als Ausgangspunkt und stellt die Beweise, die den Satz des<br />

Pythagoras (Elemente I 47) umgeben, ins Zentrum seiner Untersuchungen.<br />

Dabei werden zwei Blickwinkel favorisiert, die eng miteinander<br />

verbunden sind, ein systematischer und ein diachroner.<br />

– Die systematische Perspektive lenkt das Augenmerk auf die axiomatische<br />

Struktur der „Elemente“, indem es mit I 47 den Fluchtpunkt<br />

des 1. Buches der „Elemente“ wählt und seine Transformationen<br />

und Rekombinationen in den „Elementen“ aufsucht, um an<br />

einem einzigen Lehrsatz die Mechanik des Verweisens – jene<br />

Kulturtechnik, die maßgeblich zur Ausbildung der deduktiven<br />

Mathematik führte –, zu untersuchen. Hierbei liegt der Fokus auf<br />

den Wechselbeziehungen zwischen Bild, Schrift und Zahl und auf<br />

der Frage, wie das beschriftete Diagramm die „bildlose Schau“<br />

der deduktiven Mathematik ins Bild setzt.<br />

– Während die synchrone Betrachtung euklidimmanent der Verweisstruktur<br />

folgt und so beispielsweise die negative Axiomatik<br />

des Trapezes in den „Elementen“ selber aufsucht, steht im Zentrum<br />

der diachronen Betrachtung der Gnomon und der Übertrag<br />

einer astronomischen Kulturtechnik der Zeit und des Raumes auf<br />

die Bildflächen der deduktiven Mathematik. Das Projekt weitet<br />

deshalb den Blick auf die frühen griechischen Verwendungsweisen<br />

des Gnomon. Fokussiert wird der Übertrag einer räumlichen<br />

Kulturtechnik auf die Bildfläche des Diagramms.

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