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Vorwort - Fritz Thyssen Stiftung

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THEOLOGIE UND RELIGIONSWISSENSCHAFT<br />

keit die Ereignisse von Creil als einen Konflikt wahrnahm, bei dem<br />

die Grundlagen der französischen Gesellschaft – der laizistischrepublikanische<br />

Wertekonsens – auf dem Spiel standen.<br />

Politischerseits wurden verschiedene Regelungsversuche für den<br />

schulischen Raum unternommen: So erließ z.B. Lionel Jospin noch<br />

1989 eine Verfügung, die das Tragen des Kopftuchs nicht grundsätzlich<br />

untersagte, sondern eine Einzelfallregelung vorsah. Seit dem<br />

Sommer 2003 beschäftigte der Konflikt wieder die Assemblée Nationale,<br />

die im Dezember 2003 in ihren Abschlussberichten übereinstimmend<br />

ein gesetzliches Kopftuchverbot einforderte. Unmittelbar<br />

danach erklärte Jacques Chirac in einer feierlichen Grundsatzrede<br />

die Laizität zum Kern der republikanischen Moral und gab seiner<br />

Sorge vor ihrer drohenden kommunitaristischen Aushöhlung Ausdruck,<br />

der nur durch ein Verbot „de tenues ou de signes qui manifestent<br />

ostensiblement l´appartenance religieuse“ begegnet werden<br />

könnte. Kurz vor der Hundertjahrfeier des 1905 verabschiedeten<br />

Gesetzes zur Trennung von Kirche und Staat schienen damit, ausgelöst<br />

durch ein öffentliches Symbol einer immigrierten Religion, die<br />

Weichen in Richtung Konsolidierung des laizistischen Selbstverständnisses<br />

der französischen Gesellschaft gestellt.<br />

Im sehr viel jüngeren deutschen „Kopftuchstreit“ treten andere gesellschaftliche<br />

Sensibilitäten zutage, in denen sich eine vom französischen<br />

Verständnis abweichende Konzeption des gesellschaftlichen<br />

Ortes der Religion spiegelt. So entzündete sich die öffentliche Diskussion<br />

in Deutschland an der Kopfbedeckung einer muslimischen<br />

Lehrerin. Doch auch hier forderte der konkrete Konfliktfall dazu heraus,<br />

eine Abwägung vorzunehmen zwischen der grundrechtlich geschützten<br />

Freiheit des religiösen Bekenntnisses und der ebenfalls im<br />

Grundgesetz verankerten weltanschaulichen Neutralität des Staates,<br />

der die Beamten in ihrem Dienst verpflichtet sind. Der Zweite Senat<br />

des Bundesverfassungsgerichts sprach im September 2003 sein Urteil,<br />

das der Beschwerdeführerin in Teilen Recht gibt, insofern es feststellt,<br />

dass ihr Ausschluss vom Schuldienst aufgrund des Kopftuchs im geltenden<br />

Recht des Landes Baden-Württemberg keine hinreichende<br />

gesetzliche Grundlage finde. Zugleich aber urteilen die Karlsruher<br />

Richter, dass ein gesetzliches Verbot des Tragens religiöser Symbole<br />

im Schuldienst nicht prinzipiell verfassungswidrig sei. In ihrer ausführlichen<br />

Urteilsbegründung machen sie allerdings auch deutlich,<br />

dass die grundsätzliche Frage zu klären sei, ob religiöse Symbole<br />

überhaupt – seien es Kopftuch, Kreuz, Ordenstracht, Kippa o.a. – in<br />

einer zunehmend pluralen Gesellschaft einen Platz im schulischen<br />

Raum haben sollten oder nicht. Damit gaben die Verfassungsrichter<br />

die Verantwortung für ihre Klärung in die deutsche Gesellschaft und<br />

in die Gesetzgebungskompetenz der in diesem Fall zuständigen<br />

Landesparlamente, die unverzüglich reagierten: Nicht nur kündigten<br />

einige Bundesländer umgehend Gesetzesinitiativen zum Kopftuchverbot<br />

an, auch löste das Karlsruher Urteil eine hochemotionalisierte<br />

öffentliche Debatte über den Ort der Religion – der christlichen Traditionen<br />

ebenso wie des Islam – in der deutschen Gesellschaft aus.<br />

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