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Vorwort - Fritz Thyssen Stiftung

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GESCHICHTSWISSENSCHAFTEN<br />

Verhaftung waren dabei weniger die individuelle Schuld als vielmehr<br />

Faktoren wie Klassenzugehörigkeit, politische sowie soziale Vergangenheit<br />

oder Herkunft und im Falle von Kriminellen bzw. Rückfalltäterschaft,<br />

Kontakte zum kriminellen Milieu, Arbeitslosigkeit und<br />

Obdachlosigkeit. Der „Große Terror“ im Rahmen des Befehls Nr.<br />

00447 scheint – wie die Historiker Junge und Binner festgestellt<br />

haben – unterschiedliche, sich teilweise überlappende Stoßrichtungen<br />

gehabt zu haben:<br />

– Terror als Instrument von „Sozialtechnologie“ (Repressalien gegen<br />

Kriminalisierte, Lagerhäftlinge),<br />

– Terror zur Lösung ökonomischer und struktureller Probleme (Repressalien<br />

gegen Kulaken bzw. Einzelbauern),<br />

– Terror zur Bekämpfung des ideologischen Gegners und zur Verwirklichung<br />

der kommunistischen Utopie (Repressalien gegen<br />

Religionsgemeinschaften, Sozialisten),<br />

– Terror als politische Präventivmaßnahme bzw. zur Herrschaftssicherung<br />

(Repressalien gegen ehemalige Angehörige der zaristischen<br />

Armee, Kulaken).<br />

Die nur in Ansätzen existente Forschung war bisher darauf gerichtet,<br />

den Befehl aus der Sicht der Moskauer Zentren, der Parteiführung<br />

und des NKVD zu betrachten, dabei verblieben die Opfer weitgehend<br />

in der Anonymität. Ziel des Projekts ist es, einen Perspektivenwechsel<br />

vorzunehmen und Umsetzung und Auswirkungen des Befehls<br />

„vor Ort“ zu untersuchen. Dabei sollen zwei speziell ausgewählte<br />

Provinzen der ehemaligen Sowjetunion im Mittelpunkt stehen, und<br />

zwar die Gebiete Kalinin (heute Tver´) und Char´kov (Ukraine).<br />

Explizit stellt das Projekt die Opfer der Massenrepressionen in den<br />

Vordergrund und wird darüber hinaus den spezifischen Charakter<br />

der Unterdrückung in den jeweiligen Gebieten erforschen. Anhand<br />

der Untersuchungsakten soll u.a. geklärt werden, wer faktisch die<br />

Todesurteile gefällt hat. Dabei ist der Grad der Arbeitsteilung von der<br />

Überwachung der Person oder Sammlung von kompromittierendem<br />

Material, der Verhaftung, des Verhörs, der Befragung von Zeugen,<br />

der Ausarbeitung der Anklage, der Urteilsfällung vor den „Troiki“ bis<br />

zur Urteilsvollstreckung zu untersuchen. Besondere Aufmerksamkeit<br />

verdienen in diesem Zusammenhang die Verhörprotokolle und Zeugenaussagen.<br />

Zusätzlichen Aufschluss über die Rolle des NKVD können<br />

Protokolle der Befragungen von Mitarbeitern des NKVD geben,<br />

die den Untersuchungsakten der Rehabilitierungsverfahren ab Mitte<br />

der fünfziger Jahre beigefügt wurden. Teil des Projekts ist es auch,<br />

das Verhältnis der Peripherie zum Zentrum im Rahmen des Befehls<br />

00447 zu untersuchen. Hier geht es um die Interaktion zwischen dem<br />

Zentrum und den ausgewählten Provinzen, d.h. um die jeweiligen<br />

Spielräume, den Grad der Kontrolle und die Intensität des Informationsflusses.<br />

Die regional über den „Großen Terror“ erschlossenen<br />

Seite 63

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