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Vorwort - Fritz Thyssen Stiftung

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SPRACH- UND LITERATURWISSENSCHAFTEN<br />

etwa 1900 vorherrschenden Beschäftigung mit Zeit und Geschichte<br />

durch ein dominantes Interesse an Räumen und Raumbeziehungen<br />

im 20. Jahrhundert, das mit der kulturwissenschaftlichen Öffnung<br />

der Literaturwissenschaft einhergeht. Dabei sollen die Begriffe „Kulturwissenschaft“,<br />

„Literaturwissenschaft“ und die ihnen zugeordnete<br />

„Wende“ in der Untersuchung selbst erstens kritisch mitreflektiert<br />

werden, zweitens wird das Projekt zeigen, dass und inwiefern dieses<br />

Zeitdenken nicht völlig getilgt und ersetzt wird, sondern integraler<br />

Bestandteil auch der raumorientierten literarischen Entwürfe bleibt.<br />

Die bisherigen Arbeiten bestanden aus Fallstudien, bei denen sich<br />

die strukturellen und begrifflichen Grundentscheidungen des Projekts<br />

durchweg befolgen ließen und insofern ihre Bestätigung erfuhren,<br />

die thematischen Vorgaben Foucaults aber auch bereits überschritten<br />

werden mussten. In ihnen ist die Heterotopie des Theaters<br />

repräsentiert mit Shakespeares „Twelfth Night“, die des öffentlichen<br />

Parks mit dem Luxembourg in Rilkes „Malte Laurids Brigge“, die des<br />

Friedhofs mit der Aire Saint-Mittre in Zolas „Fortune des Rougon“<br />

und dem Montmartre in Célines „Voyage au bout de la nuit“, die des<br />

Hospizes mit Thomas Manns „Zauberberg“ und die der Passage mit<br />

Jacques Rédas „Les ruines de Paris“. Kurz vor dem Abschluss stehen<br />

Studien zu Chavignolles, dem Schauplatz von Flauberts „Bouvard et<br />

Pécuchet“ und zu Sodom und Gomorrha in Prousts „A la recherche<br />

du temps perdu“. Mit heterotopen Schauplätzen der Legende im<br />

frühneuzeitlichen Spanien kann vermutlich ein zunächst nicht vorgesehener<br />

thematischer Bereich in das Projekt eingebracht werden.<br />

Überhaupt hat sich bei der Sammlung weiterer Materialien die Gattungsfrage<br />

als wesentlicher Faktor in den Vordergrund geschoben.<br />

So hat das Theater, weniger als Institution, sondern in seiner theatralischen<br />

Performanz und hier zumal in der Komödie, offenbar immer<br />

schon eine Tendenz zu heterotopen Auslagerungen gehabt,<br />

weist aber einen diesbezüglich markanten Schub in der Renaissance<br />

auf. Sei der Renaissance sind auch deutlich Abkopplungen heterotoper<br />

Raummodellierungen von utopischen zu beobachten. Die<br />

Geschichte der Gattung Idylle weist ähnliche Befunde auf. Hier<br />

zeichnet sich seit dem 18. Jahrhundert ein Funktionsübergang vom<br />

positiv gewerteten Fluchtraum zur heterotopen Anti-Idylle mit<br />

kritisch-subversiver Perspektivierung der Gesellschaft ab. Am ergiebigsten<br />

aber sind insgesamt zweifellos das 19. und das 20. Jahrhundert,<br />

insofern gerade die literarische Heterotopie den Übergang<br />

vom dominanten Zeit- zum dominanten Rauminteresse nicht einfach<br />

mitmacht, sondern immer auch reflektiert und in dieser Reflexion ein<br />

Zeitinteresse wachhält, das der rein wissenssoziologisch interessierte<br />

„topographical turn“ gegenwärtig fast schon vergessen zu haben<br />

scheint.<br />

Im Berichtszeitraum gingen folgende Publikationen hervor:<br />

Warning, Rainer: Pariser Heterotopien. Der Zeitungsverkäufer am<br />

Luxembourg in Rilkes Malte Laurids Brigge. – München : Verl. der<br />

Bayer. Akademie der Wiss., 2003. 36 S. (Sitzungsberichte / Bayeri-<br />

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