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Vorwort - Fritz Thyssen Stiftung

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Literarische<br />

Heterotopien<br />

Seite 138<br />

GESCHICHTE, SPRACHE UND KULTUR<br />

Im Gegenzug wirkten seine literarischen Experimente auf die Theorie<br />

des Film zurück: Der für die filmische Montage bahnbrechende<br />

Regisseur („Panzerkreuzer Potemkin“) und Filmtheoretiker Sergei<br />

Eisenstein war fasziniert von Joyces „Ulysses“ und bezeichnete diesen<br />

Roman in seinen Vorlesungen als beispielhaftes „Training eines<br />

visuellen Bewusstseins“. Als Folge davon perspektiviert die heutige<br />

Forschung, sofern sie sich dem Einfluss des Kinofilms auf Joyces<br />

Schaffen widmet, dessen literarische Werke durchweg im Licht von<br />

Eisensteins Theoretisierung und Praxis – und damit anachronistisch,<br />

denn Eisensteins Vorlesungen stammen erst aus den 1920er Jahren.<br />

Im Gegensatz dazu soll das vorgeschlagene Projekt sich historisch<br />

auf Joyces produktivste Jahre in Triest konzentrieren 1904-1918, in<br />

denen die Erzählungen der „Dubliners“, „Portrait of the Artist as a<br />

Young Man“ und die Anfänge des „Ulysses“ entstanden. Triest, damals<br />

ein kosmopolitischer Hafen und Knotenpunkt zwischen dem<br />

Habsburgischen Reich und dem Balkan, verfügte bereits 1905 über<br />

17 etablierte Kinos, damals eine ungewöhnlich große Anzahl. Joyce<br />

soll diese mehrmals wöchentlich frequentiert haben.<br />

Das Projekt soll sich in drei Schritte gliedern, die vom Biographischen<br />

ins Theoretische führen. Zunächst soll ein Register der Filme erstellt<br />

werden, die Joyce in diesen Jahren tatsächlich sah, sodann sollen –<br />

unter Einbeziehung der neueren kinematographischen Forschung –<br />

Joyces literarische Werke, vor allem die „Dubliners“ und „Ulysses“,<br />

daraufhin untersucht werden, inwieweit deren narrative Techniken<br />

und Innovationen auf Einflüsse der Ästhetik des Stummfilms zurückgeführt<br />

werden können. In einem dritten Schritt soll das grundsätzliche<br />

Verhältnis der literarischen Moderne zu den Anfängen der<br />

Filmkunst ins Auge gefasst und nach Spezifika einer „Rhetorik des<br />

Bildes“ (oder Rhetorisierung der Bilder) in der Ästhetik der Moderne<br />

gefragt werden.<br />

Literarische Heterotopien untersucht ein von der <strong>Stiftung</strong> gefördertes<br />

Projekt, das von Prof. R. Warning (Institut für Romanische Philologie,<br />

Universität München) durchgeführt wird.<br />

Michel Foucault bezeichnet als „Heterotopien“ real existierende Orte<br />

innerhalb einer Gesellschaft, die deren Struktur ganz oder zum Teil<br />

in sich abbilden und sie zugleich – auf eine in ihrer Umgebung nicht<br />

gebräuchliche Weise – neu konfigurieren, so dass das Ergebnis<br />

diese Umgebung in Frage stellt. Heterotopien sind damit gleichsam<br />

kleine realisierte Utopien und Gegenbilder der Gesellschaft. Foucaults<br />

Auflistung von Heterotopien ist ein Katalog ohne systematischen Anspruch:<br />

Sterbehospiz, Klinik, Gefängnis, Friedhof, Theater, Garten,<br />

Museum, Bibliothek, Jahrmarkt, Feriendorf, Bordell, Kolonie, Schiff.<br />

Das Forschungsvorhaben will das bei Foucault (wissens-)soziologisch<br />

verstandene Konzept der Heterotopie für die Literaturwissenschaft<br />

fruchtbar machen. Mit diesem Ansatz situiert sich das Projekt<br />

im Kontext des sog. „topographical turn“, d.h. der Ablösung der bis

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