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Vorwort - Fritz Thyssen Stiftung

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GESCHICHTSWISSENSCHAFTEN<br />

Das Forschungsprojekt stellt die Frage, wie sexuelle Gewalt je nach<br />

dem sozialen Milieu, in dem sie stattfand, beurteilt und erklärt wurde.<br />

Inwiefern war Geschlecht konstitutiv für die Interpretationen<br />

sexueller Gewalt und galt dies quer durch die Schichten der russischen<br />

Gesellschaft? Welche Vorstellungen kursierten über die Sexualität<br />

der Unterschichten im Unterschied zu der der gehobenen Kreise?<br />

Wie wurden die vielfältigen Formen sexueller Gewalt (Vergewaltigung,<br />

Lustmord, sadistische Praktiken etc.) in den unterschiedlichen<br />

sozialen Milieus beurteilt? Wie wirkte sich sexuelle Gewalt in den<br />

städtischen Unterschichten auf die von der Elite geführte Diskussion<br />

über den zukünftigen Weg Russlands als europäisches oder aber<br />

slawisches Gemeinwesen aus? Das Forschungsprojekt fragt nicht<br />

nach der tatsächlichen Entwicklung sexueller Gewalt im vorrevolutionären<br />

Sankt Petersburg, sondern nach den Bedeutungen und Erklärungen,<br />

die sexuelle Gewalt durch die damals lebenden Menschen<br />

erhielt.<br />

Der Briefwechsel zwischen Leo Frobenius und Wilhelm II. ist Gegenstand<br />

einer Untersuchung, die mit Unterstützung der <strong>Stiftung</strong> von<br />

Prof. M.-L. Recker (Historisches Seminar, Johann Wolfgang Goethe-<br />

Universität Frankfurt a.M.) durchgeführt wird. Ihr Ergebnis soll die<br />

Veröffentlichung einer Auswahl der Briefe mit kritischer Kommentierung<br />

und einer einführenden Darstellung zu der Beziehung der<br />

beiden Protagonisten sein.<br />

Die deutsche Niederlage im Ersten Weltkrieg und der damit verbundene<br />

Untergang des Kaiserreiches griffen auch das Selbstbild derjenigen<br />

an, die es gestützt und sich mit ihm identifiziert hatten.<br />

Erklärungen, die das deutsche „Schicksal“ in einen größeren Zusammenhang<br />

stellten und ihm einen Sinn zusprechen konnten, fanden<br />

enormen Zuspruch. Große Resonanz hatte daher auch die „Kulturmorphologie“<br />

des Ethnologen Leo Frobenius. Sie war nicht nur Bestandteil<br />

der für die deutsche Zwischenkriegszeit kennzeichnenden<br />

gestaltorientierten Denkrichtung und konnte zahlreiche zeitgenössische<br />

Intellektuelle begeistern, sondern war vor allem auch politischer<br />

Deutung zugänglich.<br />

Dieser aktualisierende Bezug der Kulturmorphologie brachte ihren<br />

Schöpfer auch in eine enge Verbindung mit dem zentralen Repräsentanten<br />

des untergegangenen Systems, dem ehemaligen Kaiser. Ab<br />

1923 besuchte ihn Frobenius regelmäßig in seinem Doorner Exil.<br />

Hieraus entwickelte sich die jährlich versammelte „Doorner Arbeits-<br />

Gemeinschaft“, ein Kreis deutscher und niederländischer Fachgelehrter<br />

aus Völkerkunde, Altphilologie, Vor- und Frühgeschichte,<br />

Religionswissenschaft und Theologie um Frobenius. Wilhelm dilettierte<br />

selbst und hielt bei diesen Tagungen Vorträge, für die ihm nicht<br />

selten der Frankfurter Forscher die Feder geführt hatte. Vor allem<br />

aber fand das enge Verhältnis zwischen Frobenius und seinem prominenten<br />

„Schüler“ Niederschlag in einem intensiven Briefwechsel,<br />

der ab dem Jahr 1924 überliefert ist und erst mit dem Tod des Ethnologen<br />

1938 endet.<br />

Frobenius<br />

und<br />

Wilhelm II.<br />

Seite 49

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