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Vorwort - Fritz Thyssen Stiftung

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Seite 34<br />

GESCHICHTE, SPRACHE UND KULTUR<br />

Der „Kopftuchstreit“ zeugt in beiden Ländern von gesellschaftlichen<br />

Verunsicherungen, die weit über ihren Anlass hinaus darauf verweisen,<br />

dass der Ort der Religion, den die Säkularisierungstheorie in die<br />

Privatsphäre und damit ins gesellschaftliche Jenseits verlegt hatte,<br />

grundsätzlich wieder strittig geworden ist. Hervorgerufen wurden<br />

die aktuellen Irritationen durch den mit dem Kopftuch augenfällig<br />

symbolisierten Anspruch des Islam auf öffentliche Präsenz. Dieser<br />

Anspruch kollidiert mit den historisch gewachsenen religionsrechtlichen<br />

Rahmen in Frankreich (Laizität) und Deutschland (Kooperationsmodell).<br />

Diese sind wesentlich durch die Konfliktgeschichte des<br />

Christentums mit dem modernen Staat sowie durch innerchristliche<br />

Konfessionskämpfe geprägt und spiegeln folglich den religionsgeschichtlichen<br />

Erfahrungshintergrund einer Zeit, in der der Islam noch<br />

keine bedeutende Stimme in den europäischen Gesellschaften hatte.<br />

Die Konfliktlinien, die sich in den aktuellen gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen<br />

um eine Neuverortung der Religionen im Gefüge<br />

der französischen und deutschen Gesellschaft ergeben, treten im<br />

„Kopftuchstreit“ exemplarisch zutage.<br />

Das geplante Projekt ist daher in religionswissenschaftlicher Perspektive<br />

auf die Frage ausgerichtet, wie die französische und deutsche<br />

Öffentlichkeit im „Kopftuchstreit“ ihr Verhältnis zur Religion<br />

thematisieren und inwiefern dabei Anzeichen einer „Entzauberung“<br />

des christlich-säkularen bzw. laizistischen Konsenses erkennbar sind.<br />

Dies soll durch eine Untersuchung der diskursiven Strategien erfolgen,<br />

mit denen in Rechtsprechung, Politik und Zivilgesellschaft die<br />

mit dem Kopftuch erhobenen religiösen Ansprüche der Musliminnen<br />

in vertraute semantische „Codes“ gleichsam „übersetzt“ werden.<br />

Idealtypisch sollen drei „Übersetzungsstrategien“ unterschieden werden:<br />

So wird im „Kopftuchstreit“ in Frankreich und Deutschland der<br />

mit dem Kopftuch symbolisch erhobene religiöse Anspruch erstens in<br />

einen politischen Anspruch übersetzt (das Kopftuch als politisches<br />

Symbol „fundamentalistischer“ bzw. „islamistischer“ Gesinnung),<br />

zweitens in einen rechtlichen Anspruch (das Kopftuch als Zeichen für<br />

Inanspruchnahme des Rechts auf Religionsfreiheit) und drittens in<br />

einen kulturellen Anspruch (das Kopftuch als Instrument im zivilgesellschaftlichen<br />

Kampf um die Anerkennung differenter kultureller<br />

Identität). Alle drei „Übersetzungsstrategien“ zielen darauf, das<br />

religiöse Irritationspotential des islamischen Kopftuchs abzubauen,<br />

indem sie das mit dem Kopftuch öffentlich sichtbar gemachte religiöse<br />

Bekenntnis zu einer in Europa noch weitgehend „fremden“ Religion<br />

in die Rahmen der gängigen und erlernten Regulierungsmuster im<br />

Umgang mit der „eigenen“ Religion einfügen und damit gesellschaftlich<br />

verhandelbar machen. In dem Projekt sollen die jeweiligen<br />

Ausprägungen dieser „Übersetzungscodes“ sowie ihr „Mischungsverhältnis“<br />

in Frankreich und Deutschland auf der Grundlage der<br />

jeweiligen Debattenbeiträge zum „Kopftuchstreit“ untersucht und in<br />

den verschiedenen religionsgeschichtlichen und –rechtlichen Konstellationen<br />

beider Länder verortet werden. Die vergleichende Untersuchung<br />

wird sich dabei an der Frage orientieren, ob und wie im<br />

„Kopftuchstreit“ die Weichen für eine Neuaushandlung des historisch

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