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antragsbuch_2015

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schnallenden Gürtels sind verheerend. Das soziale Sicherungssystem, das Gesundheitswesen,<br />

das ehemals funktionierende Tarifvertragssystem und der Schutz von<br />

Arbeitnehmer*innenrechten wurden auf dem Altar der Austerität geopfert. Ein Drittel der<br />

griechischen Bevölkerung lebt mittlerweile in Armut, die Arbeitslosigkeit ist nach wie vor auf<br />

einem europäischen Höchststand von 27 Prozent und liegt bei Jugendlichen und jungen<br />

Erwachsenen sogar bei über 50 Prozent. Gleichzeitig wachsen aufgrund der sich stetig<br />

verschärfenden gesellschaftlichen Verhältnisse nicht nur in Griechenland Populismus,<br />

Nationalismus und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. In vielen Mitgliedsstaaten der<br />

Europäischen Union sind im Zuge der Banken- und Finanzkrise Kräfte erstarkt, die einen<br />

nationalistischen Rollback fordern und damit besorgniserregende Wahlerfolge verzeichnen<br />

konnten.<br />

Betrachtet man den Verlauf der sogenannten Griechenland-Hilfen von einer Position jenseits<br />

der Mainstream-Berichterstattung, erkennt man, dass die Griechenland-Pakete in Wahrheit<br />

weitere Rettungsprogramme für europäische Banken gewesen sind. Es gab keinen vielzitierten<br />

Bail-Out Griechenlands. Es fand lediglich eine Umschuldung von privaten zu öffentlichen<br />

Gläubiger*innen statt. Die Finanzmärkte wurden aus der Haftung entlassen und an ihrer Stelle<br />

haften nun die europäischen Steuerzahler*innen für die griechischen Schulden. Dies gab den<br />

rechtspopulistischen und rechtsextremen Kräften in allen europäischen Mitgliedstaaten die<br />

Chance, die Steuerzahler*innen verschiedener Staaten gegeneinander auszuspielen.<br />

Da an der Schuldensituation Griechenlands durch die Hilfsprogramme strukturell nichts<br />

geändert wurde, konnten die bereitgestellten Gelder auch für keine Wachstumsimpulse in der<br />

griechischen Wirtschaft sorgen. Denn anders als etwa beim Marshallplan werden die Gelder in<br />

Athen fast ausschließlich zur Ablösung alter Kredite ausgegeben. Die von der Troika gesteckten<br />

Ziele, nämlich die Absenkung der Staatschuldenquote, konnten nicht erreicht werden. Dafür<br />

profitieren andere Staaten, allen voran Deutschland, von den Kürzungs- und<br />

Privatisierungsdiktaten der Troika – etwa durch Zinszahlungen oder durch die Privatisierung von<br />

14 gewinnbringenden griechischen Regionalflughäfen. Diese wurden für kleines Geld verkauft<br />

und zweigen nun ihre Gewinne an das deutsche Staatsunternehmen Fraport ab, das der Stadt<br />

Frankfurt und dem Land Hessen gehört.<br />

Ein politischer Paradigmenwechsel, der dem verhängnisvollen Pfad der Austerität entsagt, ist<br />

jedoch nicht in Sicht. Die am 13. Juli <strong>2015</strong> getroffene Vereinbarung um ein drittes Hilfs- und<br />

Reformpaket für Griechenland verschreibt dem Patienten nach wie vor ein giftiges Gemisch aus<br />

Haushaltskürzungen und Liberalisierungsmaßnahmen. Dass dabei in Form von<br />

Genehmigungsvorbehalten für praktisch alle finanzpolitischen Angelegenheiten weitgehende<br />

Eingriffe in die demokratische Grundordnung Griechenlands vorgenommen werden, ist<br />

Ausdruck einer sukzessiven Neuverfassung der Demokratie in Europa.<br />

Der Philosoph Jürgen Habermas spricht in diesem Zusammenhang von einem „Rechtsstaat<br />

ohne Sozialstaat“, der an die Stelle der Demokratie gesetzt werde. Ähnlich formuliert es auch<br />

der Direktor des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung, Wolfgang Streeck. Er arbeitet<br />

heraus, dass von Seiten der politischen Entscheidungsträger*innen eine doppelte institutionelle<br />

Bindung staatlicher Politik an marktgerechte Prinzipien angestrebt werde: zum einen durch<br />

Selbstbindung in Gestalt von verfassungsrechtlich verankerten Schuldenbremsen und zum<br />

anderen durch Fremdbindung mittels internationaler Verträge und europarechtlicher<br />

Verpflichtungen. Damit werde, so Streeck weiter, eine Mauer zwischen Wirtschaft und Politik<br />

gezogen, die es den Märkten gestattet, allein ihre Version von Gerechtigkeit durchzusetzen.<br />

Dem Staat kommt dabei lediglich die Rolle desjenigen zu, der dem Markt möglichst unbehelligte<br />

Räume zur Entfaltung bereitstellt. Wenn wir also heute darüber streiten, ob der Kurs der<br />

Austeritätspolitik der richtige sei, dann geht es nicht nur um das Für und Wider des Sparens,<br />

sondern um einen systemischen Konflikt – einen Kampf um Demokratie, Sozialstaatlichkeit und<br />

um die Verteilung von Macht und Vermögen.<br />

Sozialdemokratische Krisenperformanz auf Stammtischniveau<br />

Die SPD hat sich in diesem Konflikt inhaltlich für „ein Europa der Bürgerinnen und Bürger –<br />

nicht der Banken und Spekulanten“ (Wahlprogramm zur Europawahl, 2014) ausgesprochen. Im<br />

Alltag der politischen Praxis blieb davon aber nicht viel übrig. Die Perspektiv- und<br />

Konzeptlosigkeit, mit der die sozialdemokratische Führung um Sigmar Gabriel im sogenannten<br />

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