30.12.2012 Aufrufe

Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung - Mahs.at

Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung - Mahs.at

Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung - Mahs.at

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

immer ein Gefühl der Sicherheit und die Überzeugung, daß hier ein fester<br />

Grund vorhanden war, auf dem man stehen konnte. Es kam mir dabei nie der<br />

Gedanke, wie «heidnisch» diese Grundlegung war. Nr. 2 meiner Mutter war<br />

mir die stärkste Stütze in dem sich anbahnenden Konflikt zwischen der<br />

väterlichen Tradition und den seltsamen, kompens<strong>at</strong>orischen Gebilden, zu<br />

deren Erschaffung mein Unbewußtes angeregt wurde.<br />

Rückblickend sehe ich, wie sehr meine kindliche Entwicklung zukünftige<br />

Ereignisse vorwegnahm und Anpassungsmodi vorbereitete für den religiösen<br />

Zusammenbruch meines V<strong>at</strong>ers sowohl wie für die erschütternde<br />

Offenbarung des heutigen Weltbildes, die ja auch nicht <strong>von</strong> gestern auf heute<br />

entstanden ist, sondern ihren Sch<strong>at</strong>ten lange vorausgeworfen h<strong>at</strong>. Obschon wir<br />

Menschen unser eigenes persönliches Leben haben, so sind wir doch auf der<br />

anderen Seite in hohem Maße die Repräsentanten, die Opfer und Förderer<br />

eines kollektiven Geistes, dessen Lebensjahre Jahrhunderte bedeuten. Wir<br />

können wohl ein Leben lang meinen, dem eigenen Kopf zu folgen, und<br />

entdecken nie, daß wir zur Hauptsache St<strong>at</strong>isten auf der Szene des<br />

Weltthe<strong>at</strong>ers waren. Es existieren aber T<strong>at</strong>sachen, die wir zwar nicht kennen,<br />

die aber doch unser Leben beeinflussen, und das umso mehr, als sie unbewußt<br />

sind.<br />

So lebt wenigstens ein Teil unseres Wesens in den Jahrhunderten, jener<br />

Teil, den ich zum priv<strong>at</strong>en Gebrauch als Nr. 2 bezeichnet habe. Daß er kein<br />

individuelles Kuriosum ist, beweist unsere abendländis che Religion, die sich<br />

expressis verbis an diesen inneren Menschen wendet und es seit bald<br />

zweitausend Jahren ernstlich versucht, ihn dem Oberflächenbewußtsein und<br />

dessen Personalismus zur Kenntnis zu bringen: «Noii foras ire, in interiore<br />

homine habit<strong>at</strong> veritas!» (Geht nicht nach außen, im inneren Menschen wohnt<br />

die Wahrheit).<br />

In die Jahre 1892 bis 1894 fiel eine Reihe heftiger Diskussionen mit<br />

meinem V<strong>at</strong>er. Er h<strong>at</strong>te in Göttingen orientalische Sprache unter Ewald<br />

studiert und seine Dissert<strong>at</strong>ion über ein e arabische Version des Hohen Liedes<br />

geschrieben. Seine heroische Zeit war mit dem Schlußexamen an der<br />

Universität abgelaufen. Danach vergaß er seine philologische Begabung. Als<br />

Landpfarrer in Laufen am Rheinfall versank er in Gefühlsenthusiasmus und in<br />

studentische <strong>Erinnerungen</strong>, rauchte immer noch die lange Studentenpfeife<br />

96

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!