30.12.2012 Aufrufe

Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung - Mahs.at

Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung - Mahs.at

Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung - Mahs.at

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

im persönlichen Umkreis, sondern vielmehr in der kollektiven Situ<strong>at</strong>ion zu<br />

suchen. Diesem Umstand h<strong>at</strong> die bisherige Psychotherapie vie l zu wenig<br />

Rechnung getragen.<br />

Wie jedermann, der einige Introspektion besitzt, es tun würde, nahm ich es<br />

zunächst als selbstverständlich an, daß der Zwiespalt meiner Persönlichkeit<br />

meine persönlichste Angelegenheit und Verantwortung sei. Faust h<strong>at</strong>te zwar<br />

das erlösende Wort «Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust» zu mir<br />

gesprochen, aber die Ursache der Zwiespältigkeit nicht erhellt. Faustens<br />

Einsicht schien gerade auf mich zu passen. Ich konnte ja damals, als ich mit<br />

«Faust» bekannt wurde, nicht ahnen, wie sehr Goethes seltsamer Heldenmythus<br />

kollektiv war und deutsches Schicksal prophetisch vorausnahm.<br />

Deshalb fühlte ich mich persönlich betroffen, und wenn Faust infolge seiner<br />

Hybris und Infl<strong>at</strong>ion den Mord an Philemon und Baucis veranlaßte, fühlte ich<br />

mich schuldig, etwa wie wenn ich in der Vergangenheit am Mord der beiden<br />

Alten teilgehabt hätte. Diese sonderbare Idee erschreckte mich, und ich sah es<br />

als meine Verantwortung an, diese Schuld zu sühnen, oder ihre Wiederholung<br />

zu verhindern.<br />

Meine falsche Schlußfolgerung wurde noch unterstützt durch eine<br />

Neuigkeit, die ich in jenen Jugend jähren <strong>von</strong> dritter Seite erfuhr. Ich vernahm<br />

nämlich, daß <strong>von</strong> meinem Großv<strong>at</strong>er <strong>Jung</strong> allgemein die Legende ging, er sei<br />

ein n<strong>at</strong>ürlicher Sohn Goethes. Diese ärgerliche Geschichte schlug bei mir<br />

insofern ein, als sie meine merkwürdigen Reaktionen auf «Faust» zugleich<br />

bekräftigte und zu erklären schien. Ich glaubte zwar nicht an Reinkarn<strong>at</strong>ion,<br />

wohl aber war mir jener Begriff, den der Inder Karma nennt, instinktiv<br />

vertraut. Da ich damals keine Ahnung <strong>von</strong> der Existenz des Unbewußten<br />

h<strong>at</strong>te, war mir ein psychologisches Verständnis meiner Reaktionen<br />

unmöglich. Ich wußte auch gar nichts da<strong>von</strong> - so wenig man es auch heute<br />

allgemein weiß - daß die Zukunft sich im Unbewußten auf lange Sicht<br />

vorbereitet und darum <strong>von</strong> Hellsichtigen auch schon lange vorher err<strong>at</strong>en<br />

werden kann. So rief z. B. Jakob Burckhardt beim Eintreffen der Nachricht<br />

<strong>von</strong> der Kaiserkrönung in Versailles aus: «Das ist der Untergang<br />

Deutschlands.» Schon pochten die Archetypen Wagners an die Tore, und mit<br />

ihnen kam das dionysische Erlebnis Nietzsches, das man besser dem Rauschgott<br />

Wotan zuschreibt. Die Hybris der Wilhelminischen Aera befremdete<br />

Europa und bereitete die K<strong>at</strong>astrophe <strong>von</strong> 1914 vor.<br />

Von diesem Zeitgeist wurde ich in jungen Jahren (etwa 1893)<br />

238

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!