30.12.2012 Aufrufe

Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung - Mahs.at

Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung - Mahs.at

Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung - Mahs.at

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

1890. Daneben gab es jedoch einen Bereich, wie einen Tempel, in dem jeder<br />

Eintretende gewandelt wurde. Von der Anschauung des Weltganzen<br />

überwältigt und seiner selbst vergessend konnte er nur noch wundern und<br />

bewundern. Hier lebte «der Andere», der Gott als ein heimliches, persönliches<br />

und zugleich überpersönliches Geheimnis kannte. Hier trennte nichts den<br />

Menschen <strong>von</strong> Gott. Ja, es war, wie wenn der menschliche Geist zugleich mit<br />

Gott auf die Schöpfung blickte.<br />

Was ich heute in Sätze auseinandergefaltet ausdrücke , war mir damals<br />

allerdings nicht in artikulierter Form bewußt, wohl aber in überwältigender<br />

Ahnung und im tiefsten Gefühl. Sobald ich allein war, konnte ich in diesen<br />

Zustand hinübertreten. Hier wußte ich mich würdig und als eigentlichen<br />

Menschen. Ich suchte daher die Ungestörtheit und das Alleinsein des anderen,<br />

des Nr. 2.<br />

Spiel und Gegenspiel zwischen den Persönlichkeiten Nr. l und Nr. 2, die<br />

sich durch mein ganzes Leben zogen, haben nichts mit einer «Spaltung» im<br />

üblichen medizinischen Sinne zu tun. Im Gegenteil, sie werden bei jedem<br />

Menschen gespielt. Vor allem sind es die Religionen, die seit jeher zu Nr. 2<br />

des Menschen, zum «inneren Menschen», gesprochen haben. In meinem<br />

Leben h<strong>at</strong> Nr. 2 die Hauptrolle gespielt, und ich habe immer versucht, dem<br />

freien Lauf zu lassen, was <strong>von</strong> Innen her an mich heranwollte. Nr. 2 ist eine<br />

typische Figur; meist reicht aber das bewußte Verstehen nicht aus zu sehen,<br />

daß man das auch ist.<br />

Die Kirche wurde mir allmählich zur Qual, denn dort wurde laut - ich<br />

möchte fast sagen: schamlos - <strong>von</strong> Gott gepredigt, was Er beabsichtigt, was<br />

Er tut. Die Leute wurden ermahnt, jene Gefühle zu haben, jenes Geheimnis zu<br />

glauben, <strong>von</strong> dem ich wußte, daß es die innerste, innigste, durch kein Wort zu<br />

verr<strong>at</strong>ende Gewißheit war. Ich konnte daraus nur schließen, daß anscheinend<br />

niemand um dieses Geheimnis wußte, nicht einmal der Pfarrer;<br />

denn sonst hätten sie es nie wagen können, in aller Öffentlichkeit das<br />

Gottesgeheimnis preiszugeben und die unsäglichen Gefühle mit<br />

abgeschmackten Sentimentalitäten zu profanieren. Überdies war ich sicher,<br />

daß dies der verkehrte Weg war, um zu Gott zu gelangen, denn ich wußte ja<br />

aus Erfahrung, daß diese Gnade nur dem zuteil wird, der den Willen Gottes<br />

unbedingt erfüllt. Das wurde zwar auch gepredigt, aber immer mit der<br />

Voraussetzung, daß der Wille Gottes durch die Offenbarung bekannt sei. Mir<br />

hingegen<br />

51

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!