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Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung - Mahs.at

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Meine Gefährten kommentierten das abscheuliche Wetter und sahen offenbar<br />

den Baum nicht. Sie sprachen <strong>von</strong> einem ändern Schweizer, der in Liverpool<br />

wohne, und wunderten sich, daß er sich gerade hier angesiedelt habe. Ich war<br />

<strong>von</strong> der Schönheit des blühenden Baumes und der sonnenbestrahlten Insel<br />

hingerissen und dachte: Ich weiß schon warum, und erwachte.<br />

Zu einer Einzelheit des Traumes muß ich nachträglich noch eine<br />

Bemerkung beifügen: die einzelnen Quartiere der Stadt waren ihrerseits<br />

wieder radiär um einen Mittelpunkt angeordnet. Dieser bildete einen kleinen,<br />

offenen Pl<strong>at</strong>z, <strong>von</strong> einer größeren L<strong>at</strong>erne erhellt, und stellte dergestalt eine<br />

kleinere Nachbildung der Insel dar. Ich wußte, daß der «andere Schweizer» in<br />

der Nähe eines solchen sekundären Zentrums wohnte.<br />

Dieser Traum stellte meine damalige Situ<strong>at</strong>ion dar. Ich sehe jetzt noch die<br />

grau-gelben Regenmäntel, <strong>von</strong> der Feuchtigkeit des Regens glänzend. Alles<br />

war höchst unerfreulich, schwarz und undurchsichtig - so wie ich mich<br />

damals fühlte. Aber ich h<strong>at</strong>te das Gesicht der überirdischen Schönheit, und<br />

darum konnte ich überhaupt leben. Liverpool ist der «pool of life». «Liver»,<br />

Leber, ist nach alter Auffassung der Sitz des Lebens.<br />

Das Erlebnis des Traumes verband sich mir mit dem Gefühl des<br />

Endgültigen. Ich sah, daß hier das Ziel ausgedrückt war. Die Mitte ist das<br />

Ziel, und über sie kommt man nicht hinweg. Durch den Traum verstand ich,<br />

daß das Selbst ein Prinzip und ein Archetypus der Orientierung und des Sinns<br />

ist. Darin liegt seine heilbringende Funktion. Aus dieser Erkenntnis ergab sich<br />

mir eine erste Ahnung meines Mythus.<br />

Nach dem Traum gab ich es auf, Mandalas zu zeichnen oder zu malen. Er<br />

drückte den Gipfel der Bewußtseinsentwicklung aus. Er befriedigte mich<br />

restlos, denn er gab ein vollständiges Bild meiner Situ<strong>at</strong>ion. Ich h<strong>at</strong>te zwar<br />

gewußt, daß ich mit etwas Bedeutendem beschäftigt war, aber mir fehlte noch<br />

das Verständnis, und es war niemand in meiner Umgebung, der es verstanden<br />

hätte. Die Verdeutlichung durch den Traum gab mir die Möglichkeit, das, was<br />

mich erfüllte, objektiv zu betrachten.<br />

Ohne eine solche Vision hätte ich vielleicht meine Orientierung verloren<br />

und meine Unternehmung aufgeben müssen. Aber hier war der Sinn<br />

ausgedrückt. Als ich mich <strong>von</strong> Freud getrennt h<strong>at</strong>te, wußte ich, daß ich in das<br />

Nicht-Gewußte, Unbekannte hinausfiel. Ich wußte ja nichts Eigentliches über<br />

Freud hinaus; aber ich h<strong>at</strong>te<br />

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