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Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung - Mahs.at

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sächlichen Interessen galten. Damals war es mir allerdings unbekannt, wie<br />

sehr diese Auswahl verschiedenster Disziplinen meiner doppelseitigen N<strong>at</strong>ur<br />

entsprach: in der N<strong>at</strong>urwissenschaft befriedigte mich die konkrete T<strong>at</strong>sache<br />

mit ihren geschichtlichen Vorstufen, in der Religionswissenschaft die geistige<br />

Problem<strong>at</strong>ik, in die auch die Philosophie einging. In ersterer vermißte ich den<br />

Faktor des Sinnes, in letzterer die Empirie. Die N<strong>at</strong>urwissenschaft entsprach<br />

in hohem Maße den geistigen Bedürfnissen <strong>von</strong> Nr. l, die geisteswissenschaftlichen,<br />

beziehungsweise historischen Disziplinen hingegen<br />

bedeuteten einen wohltätigen Anschauungsunterricht für Nr. 2.<br />

In dieser widersprüchlichen Situ<strong>at</strong>ion konnte ich mich lange nicht<br />

zurechtfinden. Ich bemerkte, daß mein Onkel, der Senior der Familie meiner<br />

Mutter, welcher Pfarrer zu St. Alban in Basel war und in der Familie den<br />

Übernamen «Isemännli» trug, mir sachte die Theologie in die Nähe schob. Es<br />

war ihm nicht entgangen, mit welch ungewöhnlicher Aufmerksamkeit ich<br />

dem Tischgespräch folgte, wenn er mit einem seiner Söhne, die allesamt<br />

Theologen waren, ein Fachproblem diskutierte. Ich war nämlich durchaus<br />

nicht sicher, ob es nicht am Ende Theologen gab, die mit den schwindelnden<br />

Höhen der Universität in naher Beziehung standen und darum mehr wußten<br />

als mein V<strong>at</strong>er. Ich gewann aus diesen Tischgesprächen jedoch nie den<br />

Eindruck, daß sie sich mit wirklichen Erfahrungen und gar mit solchen wie<br />

den meinen beschäftigten, sondern sie diskutierten ausschließlich<br />

Lehrmeinungen über die biblischen Berichte, die mir wegen der zahlreichen<br />

und wenig glaubhaften Wundererzäh lungen ausgesprochen unbehaglich<br />

waren.<br />

Ich durfte während meiner Gymnasialzeit jeden Donnerstag bei diesem<br />

Onkel zu Mittag essen. Ich war ihm aber nicht nur dafür dankbar, sondern<br />

auch für den einzigartigen Vorteil, daß ich an seinem Tisch bisweilen einer<br />

erwachsenen, intelligenten und intellektuellen Unterhaltung folgen durfte.<br />

Daß es etwas derartiges überhaupt gab, war für mich ein großes Erlebnis,<br />

denn in meiner Umgebung h<strong>at</strong>te ich nie gehört, wie jemand sich über gelehrte<br />

Gegenstände unterhielt. Ich richtete zwar die Ansprüche an meinen V<strong>at</strong>er,<br />

begegnete aber dort einer mir unverständlichen Ungeduld und ängstlichen<br />

Abwehr. Ich verstand erst einige Jahre später, daß mein armer V<strong>at</strong>er nicht<br />

denken durfte, weil er <strong>von</strong> inneren Zweifeln zerrissen war. Er war auf der<br />

Flucht vor sich selber und<br />

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