30.12.2012 Aufrufe

Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung - Mahs.at

Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung - Mahs.at

Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung - Mahs.at

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

nur eine Unlust, sondern eine Art stiller Verzweiflung, die mir die Schule bis<br />

zum äußersten verleideten. Dazu kam noch, daß ich wegen gänzlicher<br />

Unfähigkeit aus dem Zeichnen entlassen wurde. Das war mir wegen des<br />

Zeitgewinns zwar willkommen, aber auch eine neue Niederlage, denn ich<br />

h<strong>at</strong>te ein gewisses Geschick im Zeichnen, <strong>von</strong> dem ich allerdings nicht wu ßte,<br />

daß es im wesentlichen <strong>von</strong> meinem Gefühl abhing. Ich konnte nämlich nur<br />

das zeichnen, was meine Phantasie beschäftigte. Ich mußte aber vorgedruckte<br />

Modelle <strong>von</strong> griechischen Gottheiten mit blinden Augen abzeichnen, und als<br />

das nicht recht gehen wollte, dachte mein Lehrer offenbar, ich brauchte etwas<br />

N<strong>at</strong>uralistisches und setzte mir die Abbildung eines Ziegenkopfes vor. An<br />

dieser Aufgabe versagte ich völlig, und das war das Ende meiner<br />

Zeichenstunden.<br />

Das zwölfte Jahr wurde für mich zum eigentlichen Schicksals jahr. Einmal,<br />

im Frühsommer 1887, stand ich nach der Schule um zwölf Uhr auf dem<br />

Münsterpl<strong>at</strong>z und wartete auf einen Kameraden, mit dem ich einen<br />

gemeinsamen Schulweg h<strong>at</strong>te. Plötzlich erhielt ich <strong>von</strong> einem der anderen<br />

<strong>Jung</strong>en einen Stoß, der mich umwarf. Ich fiel mit dem Kopf auf den<br />

Randstein des Trottoirs, und die Erschütterung benebelte mich. Während<br />

einer halben Stunde war ich ein bißchen benommen. Im Moment des<br />

Aufschlagens durchschoß mich blitzartig der Gedanke: Jetzt mußt du nicht<br />

mehr in die Schule gehen! - Ich war nur halb unbewußt, und blieb einige<br />

Augenblicke länger liegen, als nötig gewesen wäre -hauptsächlich aus<br />

Rachegefühl gegen meinen heimtückischen Angreifer. Dann lasen mich Leute<br />

auf und brachten mich in das nahe Haus zweier ledig er alter Tanten.<br />

Von da an entwickelten sich bei mir Ohnmachtsanfälle, sobald ich wieder<br />

zur Schule hätte gehen sollen, und ebenso, wenn meine Eltern mich zur<br />

Erledigung <strong>von</strong> Schularbeiten veranlassen wollten. Mehr als ein halbes Jahr<br />

lang blieb ich der Schule fern, und das war für mich ein «gefundenes<br />

Fressen». Ich konnte frei sein, stundenlang träumen, irgendwo am Wasser<br />

oder in den Wäldern sein oder zeichnen. Ich malte wilde Kriegsszenen oder<br />

alte Burgen, die angegriffen wurden oder niederbrannten, oder ich füllte<br />

ganze Seiten mit Karik<strong>at</strong>uren. (Auch heute noch erscheinen mir gelegentlich<br />

solche Karik<strong>at</strong>uren vor dem Einschlafen: grinsende Fr<strong>at</strong>zen, die sich dauernd<br />

verändern. Manchmal waren es Gesichter <strong>von</strong> Menschen, die ich kannte, und<br />

die dann bald darauf starben.) Vor<br />

36

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!