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Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung - Mahs.at

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nehmen. Der Traum stellt also eine der Wirklichkeit aequivalente Situ<strong>at</strong>ion<br />

dar, in der er eine Art <strong>von</strong> Erwachtsein schafft. Diese Art Traum verrät, im<br />

Gegens<strong>at</strong>z zu den gewöhnlichen <strong>Träume</strong>n, die Tendenz des Unbewußten, dem<br />

<strong>Träume</strong>r einen ausgesprochenen Wirklichkeitseindruck zu vermitteln, der<br />

durch die Wiederholung noch unterstrichen wird. Als Quellen solcher<br />

Wirklichkeiten kennen wir einerseits Körperempfindungen, andererseits aber<br />

archetypische Gestalten.<br />

In jener Nacht war alles so vollkommen real, oder schien wenigstens so,<br />

daß ich mich zwischen den zwei Realitäten kaum zurechtfand. Ich konnte mir<br />

keinen Vers darauf machen. Was bedeuten diese musizierenden<br />

Bauernburschen, die in langem Zug vorbeizogen? Es schien mir, als seien sie<br />

aus Neugier gekommen, um den Turm anzuschauen.<br />

Nie mehr habe ich später etwas Derartiges erlebt oder geträumt. Aber jenes<br />

Erlebnis h<strong>at</strong> mich sprachlos gelassen, und ich konnte mich nicht erinnern, je<br />

etwas Ähnliches gehört zu haben. Einen Sinn erkannte ich erst viel später, als<br />

ich mit der Luzerner Chronik des Rennward Cys<strong>at</strong> aus dem 17. Jahrhundert<br />

bekannt wurde. Darin findet sich folgende Geschichte: Auf einer Alp am<br />

Pil<strong>at</strong>us, der besonders verschrien ist für Spuk - dort soll ja Wotan heute noch<br />

sein Wesen treiben! - wurde Cys<strong>at</strong> bei einer Pil<strong>at</strong>usbestei-gung nachts gestört<br />

durch einen Zug <strong>von</strong> Leuten, die mit Musik und Singen an beiden Seiten der<br />

Hütte vorbeiströmten - genauso, wie ich es im Turm erlebt h<strong>at</strong>te.<br />

Am nächsten Tag fragte er den Senn, bei dem er übernachtet h<strong>at</strong>te, was das<br />

zu bedeuten hätte. Dieser wußte ohne weiteres Bescheid: das müßten die<br />

«sälig Lüt» gewesen sein, nämlich das Wotansheer der abgeschiedenen<br />

Seelen. Die pflegten in dieser Weise «umzugehen» und sich bemerkbar zu<br />

machen.<br />

Als Erklärung meines Erlebnisses kann man sagen, es sei eine<br />

Einsamkeitserscheinung gewesen, bei der die äußere Leere und Stille durch<br />

das Bild einer Menge <strong>von</strong> Leuten kompensiert worden sei. Das würde den<br />

Halluzin<strong>at</strong>ionen der Einsiedler entsprechen, die ebenfalls Kompens<strong>at</strong>ionen<br />

darstellen Aber weiß man denn, auf was für Realitäten solche Geschichten<br />

zurückgehen? Man könnte sich auch denken, ich sei durch die Einsamkeit so<br />

sensibilisiert worden, daß ich den Zug der «sälig Lüt» wahrgenommen habe,<br />

der da vorbeizog.<br />

Die Erklärung des Erlebnisses als eine psychische Kompens<strong>at</strong>ion<br />

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