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Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung - Mahs.at

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sieht entstanden, geriet mir aber nicht immer zum Vorteil. Das meiste aber h<strong>at</strong><br />

sich n<strong>at</strong>ürlich und aus Schicksal entwickelt. Ich bereue viele Dummheiten, die<br />

aus meinem Eigensinn entstanden sind, aber wenn ich ihn nicht gehabt hätte,<br />

wäre ich nicht zu meinem Ziel gekommen. So bin ich enttäuscht und bin nicht<br />

enttäuscht. Ich bin enttäuscht über die Menschen und bin enttäuscht über<br />

mich selber. Ich habe Wunderbares <strong>von</strong> Menschen erfahren und habe selber<br />

mehr geleistet, als ich <strong>von</strong> mir erwartete. Ich kann mir kein endgültiges Urteil<br />

bilden, weil das Phänomen Leben und das Phänomen Mensch zu groß sind. Je<br />

älter ich wurde, desto weniger verstand oder erkannte oder wußte ich mich.<br />

Ich bin über mich erstaunt, enttäuscht, erfreut. Ich bin betrübt,<br />

niedergeschlagen, enthusiastisch. Ich bin das alles auch und kann die Summe<br />

nicht ziehen. Ich bin außerstande, einen definitiven Wert oder Unwert<br />

festzustellen, ich habe kein Urteil über mich und mein Leben. In nichts bin<br />

ich ganz sicher. Ich habe keine definitive Überzeugung - eigentlich <strong>von</strong><br />

nichts. Ich weiß nur, daß ich geboren wurde und existiere, und es ist mir, als<br />

ob ich getragen würde. Ich existiere auf der Grundlage <strong>von</strong> etwas, das ich<br />

nicht kenne. Trotz all der Unsicherheit fühle ich eine Solidität des Bestehenden<br />

und eine Kontinuität meines Soseins.<br />

Die Welt, in die wir hineingeboren werden, ist roh und grausam und<br />

zugleich <strong>von</strong> göttlicher Schönheit. Es ist Temperamentssache zu glauben, was<br />

überwiegt: die Sinnlosigkeit oder der Sinn. Wenn die Sinnlosigkeit absolut<br />

überwöge, würde mit höherer Entwicklung die Sinnerfülltheit des Lebens in<br />

zunehmendem Maße verschwinden. Aber das ist nicht - oder scheint mir -<br />

nicht der Fall. Wahrscheinlich ist, wie bei allen metaphysischen Fragen,<br />

beides wahr: das Leben ist Sinn und Unsinn, oder es h<strong>at</strong> Sinn und Unsinn. Ich<br />

habe die ängstliche Hoffnung, der Sinn werde überwiegen und die Schlacht<br />

gewinnen.<br />

Wenn Lao Tse sagt: «Alle sind klar, nur ich allein bin trübe», so ist es das,<br />

was ich in meinem hohen Alter fühle. Lao Tse ist das Beispiel für einen Mann<br />

mit superiorer Einsicht, der Wert und Unwert gesehen und erfahren h<strong>at</strong>, und<br />

der am Ende des Lebens in sein eigenes Sein zurückkehren möchte, in den<br />

ewigen unerkennbaren Sinn. Der Archetypus des alten Menschen, der genug<br />

gesehen h<strong>at</strong>, ist ewig wahr. Auf jeder Stufe der Intelligenz erscheint dieser<br />

Typus und ist sich selber identisch, ob es ein alter Bauer sei, oder ein großer<br />

Philosoph wie Lao Tse. So ist das Alter - also eine<br />

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