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Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung - Mahs.at

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Zeit, daß aus dem Zusammenprall der Gegensätze die erste system<strong>at</strong>ische<br />

Phantasie meines Lebens geboren wurde. Sie tr<strong>at</strong> stückweise in Erscheinung<br />

und nahm ihren Ursprung wahrscheinlich, so weit ich mich richtig erinnere,<br />

aus einem Erlebnis, das mich aufs tiefste erregt h<strong>at</strong>te.<br />

Es war an einem Tage, da ein Nordweststurm auf dem Rhein<br />

Schaumwellen aufwarf. Mein Schulweg führte den Fluß entlang. Da sah ich<br />

plötzlich, wie <strong>von</strong> Norden her ein Schiff mit einem großen Rahsegel den<br />

Rhein vor dem Sturm hinauffuhr, ein für mich völlig neues Erlebnis: Ein<br />

Segelschiff auf dem Rhein! Das beflügelte meine Phantasie. Wenn st<strong>at</strong>t des<br />

rasch fließenden Stromes ein See da wäre, der das ganze Elsaß bedeckte!<br />

Dann hätten wir Segelschiffe und große Dampfer. Dann wäre Basel eine<br />

Hafenstadt. Dann wären wir so gut wie am Meer! Dann wäre alles anders,<br />

und wir würden leben wie in einer anderen Zeit und Welt. Dann gäbe es auch<br />

kein Gymnasium, keinen langen Schulweg, und ich wäre erwachsen und<br />

würde mir mein Leben selber einrichten. Da wäre ein Felsenhügel im See,<br />

durch eine schmale Landzunge mit dem Festland verbunden, unterbrochen<br />

durch einen breiten Kanal, über den eine Holzbrücke führt zu einem mit<br />

Türmen flankierten Tor, das sich in ein kleines, auf den Abhängen gebautes,<br />

mittelalterliches Städtchen öffnet. Auf dem Felsen steht eine wohlbewehrte<br />

Burg mit einem hohen Donjon, einem Luginsland. Das war mein Haus. Es<br />

gab darin keine Säle oder irgendwelche Pracht. Die Räume waren einfach<br />

getäfelt und eher klein. Es gab eine ungemein <strong>at</strong>traktive Bibliothek, wo man<br />

alles Wissenswerte finden konnte. Es gab auch eine Waffensammlung, und<br />

die Bastionen waren bestückt mit gewichtigen Rohren. Auch lag eine<br />

Bes<strong>at</strong>zung <strong>von</strong> fünfzig wehrhaften Gesellen in der kleinen Burg. Das<br />

Städtchen h<strong>at</strong>te einige hundert Einwohner und war regiert durch einen Bürgermeister<br />

und einen R<strong>at</strong> alter Männer. Ich war der selten erscheinende<br />

Schiedsrichter, juge de paix und Ber<strong>at</strong>er. Das Städtchen h<strong>at</strong>te auf der<br />

Landseite einen Hafen, in welchem mein Zweimaster lag, mit etlichen<br />

kleinen Stücken bewehrt.<br />

Der nervus rerum und zugleich die raison d'etre dieses ganzen<br />

Arrangements war das Geheimnis des Donjon, um das nur ich wußte. Der<br />

Gedanke h<strong>at</strong>te mich getroffen wie ein Schock. Im Turm nämlich befand sich,<br />

<strong>von</strong> der Zinne bis ins Kellergewölbe reichend, eine kupferne Säule, oder ein<br />

dickes Drahtseil, das sich oben in feinste Ästchen auffaserte, wie eine<br />

Baumkrone oder -<br />

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