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Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung - Mahs.at

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achte eine alte zerlesene Bibel mit, und ich mußte ihr jedesmal ein Kapitel<br />

angeben, das sie zu lesen h<strong>at</strong>te. Das nächste Mal mußte ich sie darüber<br />

abhören. Das t<strong>at</strong> ich etwa sieben Jahre lang, alle vierzehn Tage einmal. Ich<br />

kam mir in dieser Rolle allerdings zunächst etwas sonderbar vor, aber nach<br />

einiger Zeit wurde mir klar, was die Übung bedeutete: auf diese Weise wurde<br />

die Aufmerksamkeit der P<strong>at</strong>ientin wachgehalten, so daß sie nicht tiefer in den<br />

zersetzenden Traum des Unbewußten fiel. Das Result<strong>at</strong> war, daß sich nach<br />

etwa sechs Jahren die früher überall verbreiteten Stimmen ausschließlich und<br />

genau auf die linke Körperhälfte zurückgezogen h<strong>at</strong>ten, während die rechte<br />

völlig befreit war. Die Intensität des Phänomens auf der linken Seite war nicht<br />

etwa verdoppelt, sondern gleich stark wie früher. Man könnte sagen, daß die<br />

P<strong>at</strong>ientin wenigstens «halbseitig geheilt» war. Das war ein unerwarteter<br />

Erfolg, denn ich h<strong>at</strong>te mir nicht vorgestellt, daß unsere Bibellektüre therapeutisch<br />

wirken könnte.<br />

Durch die Beschäftigung mit den P<strong>at</strong>ienten war mir klar geworden, daß<br />

Verfolgungsideen und Halluzin<strong>at</strong>ionen einen Sinnkern enthalten. Eine<br />

Persönlichkeit steht dahinter, eine Lebensgeschichte, ein Hoffen und ein<br />

Wünschen. Es liegt nur an uns, wenn wir den Sinn nicht verstehen. Es wurde<br />

mir zum ersten Mal deutlich, daß in der Psychose eine allgemeine<br />

Persönlichkeitspsychologie verborgen liegt, daß sich auch hier die alten<br />

Menschheitskonflikte wiederfinden. Auch in P<strong>at</strong>ienten, die stumpf und<br />

ap<strong>at</strong>hisch oder verblödet wirken, geht mehr und Sinnvolleres vor, als es den<br />

Anschein h<strong>at</strong>. Im Grunde genommen entdecken wir im Geisteskranken nichts<br />

Neues und Unbekanntes, sondern wir begegnen dem Untergrund unseres<br />

eigenen Wesens. Diese Einsicht war für mich damals ein mächtiges<br />

Gefühlserlebnis.<br />

Es ist mir immer erstaunlich, wie lange es gebraucht h<strong>at</strong>, bis die Psychi<strong>at</strong>rie<br />

sich endlich den Inhalten der Psychose zuwandte. Man fragte sich nie, was<br />

die Phantasien der P<strong>at</strong>ienten bedeuteten und warum der eine P<strong>at</strong>ient eine ganz<br />

andere Phantasie h<strong>at</strong>te als der andere, warum z. B. der eine glaubte, <strong>von</strong><br />

Jesuiten verfolgt zu sein, ein anderer, daß die Juden ihn vergiften wollten,<br />

oder ein dritter, die Polizei sei hinter ihm her. Man nahm die Inhalte der<br />

Phantasien nicht ernst, sondern sprach z. B. ganz allgemein <strong>von</strong> «Verfolgungsideen».<br />

Merkwürdig erscheint es mir auch, daß meine damaligen<br />

Untersuchungen heute fast vergessen sind. Ich habe schon zu<br />

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