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Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung - Mahs.at

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haben könnten, sagte mir aber: «Vielleicht h<strong>at</strong> mein Unbewußtes eine<br />

Persönlichkeit geformt, die nicht Ich bin, und die mit ihrer eigenen Ansicht zu<br />

Worte kommen möchte.» Ich wußte, daß die Stimme <strong>von</strong> einer Frau stammte<br />

und erkannte sie als die Stimme einer P<strong>at</strong>ientin, einer begabten Psychop<strong>at</strong>hin,<br />

die eine starke Übertragung auf mich h<strong>at</strong>te. Sie war zu einer lebendigen<br />

Gestalt in meinem Innern geworden.<br />

N<strong>at</strong>ürlich war das, was ich t<strong>at</strong>, nicht Wissenschaft. Was anderes konnte es<br />

also sein als Kunst? Es schien auf der ganzen Welt nur diese zwei<br />

Möglichkeiten zu geben! Das ist die typisch weibliche Art zu argumentieren.<br />

Mit Nachdruck und voller Widerstände erklärte ich der Stimme, daß meine<br />

Phantasien mit Kunst nichts zu tun hätten. Da schwieg sie, und ich fuhr fort<br />

zu schreiben. Dann kam eine nächste Attacke - die gleiche Behauptung: «Das<br />

ist Kunst.» Wiederum protestierte ich: «Nein, das ist es nicht. Im Gegenteil,<br />

es ist N<strong>at</strong>ur.» Ich machte mich auf neuen Widerspruch und Streit gefaßt; als<br />

aber nichts erfolgte, überlegte ich, daß die «Frau in mir» kein Sprachzentrum<br />

besäße, und schlug ihr vor, sich meiner Sprache zu bedienen. Sie nahm den<br />

Vorschlag an und erklärte sogleich ihren Standpunkt in einer langen Rede.<br />

Es interessierte mich außerordentlich, daß eine Frau aus meinem Innern<br />

sich in meine <strong>Gedanken</strong> einmischte. Wahrscheinlich, so dachte ich, handelt es<br />

sich um die «Seele» im primitiven Sinn, und ich fragte mich, warum die Seele<br />

als «anima» bezeichnet worden sei. Warum stellte man sie sich als weiblich<br />

vor? Später sah ich, daß es sich bei der weiblichen Figur in mir um eine<br />

typische oder archetypische Gestalt im Unbewußten des Mannes handelt, und<br />

ich bezeichnete sie als «Anima». Die entsprechende Figur im Unbewußten<br />

der Frau nannte ich «Animus».<br />

Zuerst war es der neg<strong>at</strong>ive Aspekt der Anima, der mich beeindruckte. Ich<br />

empfand Scheu vor ihr wie vor einer unsichtbaren Präsenz. Dann versuchte<br />

ich, mich anders auf sie zu beziehen und betrachtete die Aufzeichnungen<br />

meiner Phantasien als an sie gerichtete Briefe. Ich schrieb sozusagen an einen<br />

Teil meiner selbst, der einen anderen Standpunkt vertr<strong>at</strong> als mein Bewußtsein<br />

- und erhielt überraschende und ungewöhnliche Antworten. Ich kam mir vor<br />

wie ein P<strong>at</strong>ient in Analyse bei einem weiblichen Geist! Jeden Abend machte<br />

ich mich an meine Aufzeichnungen; denn ich dachte: Wenn ich der Anima<br />

nicht schreibe, kann sie meine Phan-<br />

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