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Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung - Mahs.at

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Das ist das Allerwesentlichste. Sehen Sie, wir müssen daraus ein Dogma<br />

machen, ein unerschütterliches Bollwerk.» Das sagte er zu mir voll<br />

Leidenschaft und in einem Ton, als sagte ein V<strong>at</strong>er:<br />

«Und versprich mir eines, mein lieber Sohn: geh jeden Sonntag in die<br />

Kirche!» Etwas erstaunt fragte ich ihn: «Ein Bollwerk -wogegen?» Worauf er<br />

antwortete: «Gegen die schwarze Schlammflut-» hier zög erte er einen<br />

Moment, um beizufügen: «des Okkul-tismus.» Zunächst war es das<br />

«Bollwerk» und das «Dogma», was mich erschreckte; denn ein Dogma, d. h.<br />

ein indiskutables Bekenntnis, stellt man ja nur dort auf, wo man Zweifel ein<br />

für alle Mal unterdrücken will. Das h<strong>at</strong> aber mit wissenschaftlichem Urteil<br />

nichts mehr zu tun, sondern nur noch mit persönlichem Machttrieb.<br />

Es war ein Stoß, der ins Lebensmark unserer Freundschaft traf. Ich wußte,<br />

daß ich mich damit nie würde abfinden können. Was Freud unter<br />

«Okkult ismus» zu verstehen schien, war so ziemlich alles, was Philosophie<br />

und Religion, einschließlich der in jenen Tagen aufgekommenen<br />

Parapsychologie über die Seele auszusagen wußten. Für mich war die<br />

Sexualtheorie genau so «okkult», d. h. unbewiesene, bloß mög liche<br />

Hypothese, wie viele andere spekul<strong>at</strong>ive Auffassungen. Eine<br />

wissenschaftliche Wahrheit war für mich eine für den Augenblick<br />

befriedigende Hypothese, aber kein Glaubensartikel für alle Zeiten.<br />

Ohne dies damals richtig zu verstehen, h<strong>at</strong>te ich einen Einbruch<br />

unbewußter religiöser Faktoren bei Freud beobachtet. Offenbar wollte er mich<br />

zu einer gemeinsamen Verteidigung gegen bedrohliche unbewußte Inhalte<br />

anwerben.<br />

Der Eindruck dieses Gesprächs trug zu meiner Konfusion bei;<br />

denn ich h<strong>at</strong>te bis dahin der Sexualität nicht die Bedeutung einer<br />

schwankenden Angelegenheit beigemessen, der man die Treue wahren muß,<br />

weil sie in Verlust ger<strong>at</strong>en könnte. Für Freud bedeutete die Sexualität<br />

anscheinend mehr als anderen Leuten. Sie war ihm eine «res religiöse<br />

observanda». Unter dem Eindruck solcher Fragen und <strong>Gedanken</strong> benimmt<br />

man sich in der Regel scheu und zurückhaltend. So fand das Gespräch nach<br />

einigen stammelnden Versuchen meinerseits bald ein Ende.<br />

Ich war tief beeindruckt, verlegen und verwirrt. Ich h<strong>at</strong>te das Gefühl, einen<br />

Blick in ein neues, unbekanntes Land erhascht zu haben, woraus mir<br />

Schwärme <strong>von</strong> neuen <strong>Gedanken</strong> zuflogen. Eines war mir klar: Freud, der stets<br />

mit Nachdruck auf seine Irreligiosität<br />

(Kirche)<br />

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