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Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung - Mahs.at

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her geschah. Unmittelbar nach Sonnenaufgang pflegte ich mich auf meinen<br />

Feldstuhl unter eine Schirmakazie zu setzen. Vor mir in der Tiefe des kleinen<br />

Tals lag ein dunkler, fast schwarzgrüner Urwaldstreifen, darüber ragte der<br />

jenseitige Pl<strong>at</strong>eaurand. Zunächst herrschten scharfe Kontraste zwischen Hell<br />

und Dunkel; dann tr<strong>at</strong> alles plastisch in das Licht, das mit einer geradezu<br />

kompakten Helligkeit das Tal ausfüllte. Der Horizont darüber strahlte weiß.<br />

Allmählich drang das steigende Licht sozusagen in die Körper ein, die wie<br />

<strong>von</strong> innen sich erhellten und schließlich durchsichtig wie farbige Gläser<br />

glänzten. Alles wurde zu flimmerndem Kristall. Der Ruf des Glockenvogels<br />

umläutete den Horizont. In diesen Augenblicken befand ich mich wie in<br />

einem Tempel. Es war die allerheiligste Stunde des Tages. Ich betrachtete<br />

diese Herrlichkeit mit nimmers<strong>at</strong>tem Entzücken oder besser, in zeitloser<br />

Verzückung.<br />

In der Nähe meines Pl<strong>at</strong>zes befand sich ein hoher Felsen, <strong>von</strong> großen Affen<br />

(baboons, Pavianen) bewohnt. Jeden Morgen saßen sie ruhig, fast<br />

bewegungslos auf dem Gr<strong>at</strong> an der Sonnenseite des Felsens, während sie<br />

sonst tagsüber den Wald mit Geschn<strong>at</strong>ter und Gekreisch durchlärmten. Wie<br />

ich, schienen sie den Sonnenaufgang zu verehren. Sie erinnerten mich an die<br />

großen Paviane vom Tempel in Abu Simbel in Ägypten, welche die<br />

Ador<strong>at</strong>ionsgeste machen. Sie erzählen immer dieselbe Geschichte: Seit jeher<br />

haben wir den großen Gott verehrt, der die Welt erlöst, indem er als<br />

strahlendes Himmelslicht aus dem großen Dunkel taucht.<br />

Damals verstand ich, daß in der Seele <strong>von</strong> Uranfang her eine Sehnsucht<br />

nach Licht wohnt und ein unabdingbarer Drang, aus ihrer uranfänglichen<br />

Dunkelheit herauszukommen. Wenn die große Nacht kommt, erhält alles den<br />

Unterton einer tiefen Melancholie und eines unaussprechlichen Heimwehs<br />

nach Licht. Das ist es, was als Ausdruck in den Augen der Primitiven liegt,<br />

und was man auch in den Augen des Tieres sehen kann. Im Tierauge liegt<br />

eine Trauer, und man weiß nicht, ist es die Seele des Tieres oder ist es ein<br />

schmerzlicher Sinn, den jenes uranfängliche Sein darstellt ? Das ist die<br />

Stimmung <strong>von</strong> Afrika, die Erfahrung seiner Einsamkeiten. Es ist die<br />

uranfängliche Dunkelheit, ein mütterliches Geheimnis. Daher ist das<br />

überwältigende Erlebnis der Neger die Sonnengeburt am Morgen. Der<br />

Augenblick, in dem es Licht wird, das ist Gott. Der Augenblick bringt die<br />

Erlösung. Es ist ein Urerlebnis des Momentes, und es ist bereits verloren und<br />

vergessen, wenn man meint, die Sonne sei Gott. «Wir sind froh, daß die<br />

Nacht,<br />

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