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Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung - Mahs.at

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und interessanten Bücher schienen verpönt zu sein. Die Lektüre aber machte<br />

ihn nicht glücklich. Seine depressiven Launen häuften und verstärkten sich,<br />

ebenso seine Hypochondrie. Er h<strong>at</strong>te schon seit einer Reihe <strong>von</strong> Jahren über<br />

alle möglichen abdominalen Symptome geklagt, ohne daß der Arzt etwas<br />

Definitives feststellen konnte. Jetzt klagte er über Empfindungen, als hätte er<br />

«Steine im Bauch». Wir nahmen das lange Zeit nicht ernst, aber schließlich<br />

wurde der Arzt bedenklich. Das war Ende Sommer 1895.<br />

Im Frühjahr h<strong>at</strong>te ich mein Studium an der Universität Basel begonnen.<br />

Die einzige Zeit in meinem Leben, wo ich mich gelangweilt habe, nämlich<br />

die Schulzeit, war zu Ende, und die goldenen Tore zur universitas litterarum<br />

und zur akademischen Freiheit öffneten sich mir: ich würde die Wahrheit über<br />

die N<strong>at</strong>ur in ihren Hauptaspekten hören, ich würde alles über den Menschen,<br />

an<strong>at</strong>omisch und physiologisch, in Erfahrung bringen, und daran würde sich<br />

die Kenntnis der biologischen Ausnahmezustände, nämlich der Krankheiten,<br />

reihen. Zu allem kam, daß ich in eine farbentragende Verbindung, die<br />

Zofingia, eintreten konnte, der schon mein V<strong>at</strong>er angehört h<strong>at</strong>te. Als ich ein<br />

junger Fuchs war, kam er sogar mit mir auf einen Verbindungsausflug in ein<br />

Weindorf des Markgrafenlandes und hielt dort eine launige Rede, in der zu<br />

meinem Entzücken der frohe Geist seiner eigenen studentischen Vergangenheit<br />

zum Vorschein kam. Zugleich erkannte ich blitzartig, daß sein eigenes<br />

Leben mit dem Abschluß des Studiums zum endgültigen Stillstand<br />

gekommen war, und der Vers eines Studentenliedes fiel mir ein:<br />

Sie zogen mit gesenktem Blick<br />

In das Philisterland zurück.<br />

0 jerum, jerum, jerum,<br />

0 quae mut<strong>at</strong>io rerum!<br />

Diese Worte fielen mir schwer auf die Seele. Er war ja einstmals ein<br />

enthusiastischer Student im ersten Semester gewesen wie ich;<br />

die Welt h<strong>at</strong>te sich ihm auf getan wie mir; die unendlichen Schätze des<br />

Wissens h<strong>at</strong>ten vor ihm gelegen wie vor mir. Was konnte es gewesen sein,<br />

das ihm alles geknickt, versauert und verbittert h<strong>at</strong>te? Ich fand keine Antwort<br />

oder zu viele. Die Rede, die er an jenem Sommerabend beim Weine hielt, war<br />

seine letzte gelebte Erinnerung an eine Zeit, in der er gewesen war, was er<br />

hätte sein sollen. Bald hernach verschlimmerte sich sein Zustand. Er wurde<br />

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