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Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung - Mahs.at

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hinwies, h<strong>at</strong>te sich ein Dogma zurechtgelegt, oder vielmehr, anstelle eines<br />

ihm verloren gegangenen, eifersüchtigen Gottes h<strong>at</strong>te sich ein anderes<br />

zwingendes Bild, nämlich das der Sexualität, unterschoben; ein Bild, das<br />

nicht weniger drängend, anspruchsvoll, gebieterisch, bedrohlich und<br />

moralisch ambivalent war. Wie dem psychisch Stärkeren und darum zu<br />

Fürchtenden die Attribute «göttlich» oder «dämonisch» zukommen, so h<strong>at</strong>te<br />

die «sexuelle Libido» bei ihm die Rolle eines deus absconditus, eines<br />

verborgenen Gottes, angenommen. Der Vorteil dieser Wandlung bestand für<br />

Freud anscheinend darin, daß das neue numinose Prinzip ihm als wissenschaftlich<br />

einwandfrei erschien und befreit <strong>von</strong> aller religiösen Belastung. Im<br />

Grunde genommen blieb aber die Numinosität als psychologische Eigenschaft<br />

der r<strong>at</strong>ional inkommensurablen Gegensätze - Jahwe und Sexualität - dieselbe.<br />

Bloß die Benennung h<strong>at</strong>te sich geändert und damit allerdings auch der<br />

Gesichtspunkt: nicht oben war das Verlorene zu suchen, sondern unten. Aber<br />

was macht es schließlich dem Stärkeren aus, ob man es so oder anders bezeichnet?<br />

Wenn es keine Psychologie gäbe, sondern nur konkrete<br />

Gegenstände, so hätte man t<strong>at</strong>sächlich den einen zerstört und den anderen an<br />

seine Stelle gesetzt. In Wirklichkeit, d. h. im Bereich der psychologischen<br />

Erfahrung, ist aber <strong>von</strong> der Dringlichkeit, Ängstlichkeit, Zwangshaftigkeit<br />

usw., überhaupt nichts verschwunden. Nach wie vor bleibt die Frage, wie man<br />

der Angst, dem bösen Gewissen, der Schuld, dem Zwange, der Unbewußtheit<br />

und der Triebhaftigkeit beikommt oder entrinnt. Geht es <strong>von</strong> der hellen,<br />

idealistischen Seite nicht, dann vielleicht <strong>von</strong> der dunkeln, biologischen.<br />

Wie momentan aufzuckende Flammen fuhren mir diese <strong>Gedanken</strong> durch<br />

den Kopf. Viel später, als ich über Freuds Charakter nachdachte, wurden sie<br />

mir wichtig und enthüllten ihre Bedeutung. Es war vor allem ein<br />

Charakterzug, der mich beschäftigte: Freuds Bitterkeit. Schon bei unserer<br />

ersten Begegnung war sie mir aufgefallen. Lange blieb sie mir unverständlich,<br />

bis ich sie im Zusammenhang mit seiner Einstellung zur Sexualität sehen<br />

konnte. Für Freud bedeutete zwar die Sexualität ein Numinosum, aber in seiner<br />

Terminologie und Theorie kommt sie ausschließlich als biologische<br />

Funktion zum Ausdruck. Nur die Bewegtheit, mit der er über sie sprach, ließ<br />

darauf schließen, daß noch Tieferes in ihm anklang. Letzten Endes wollte er<br />

lehren - so wenigstens schien es mir - daß, <strong>von</strong> innen her betrachtet,<br />

Sexualität auch Geistigkeit umfasse,<br />

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