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Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung - Mahs.at

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und war enttäuscht <strong>von</strong> seiner Ehe. Er t<strong>at</strong> sehr viel Gutes - zu viel.<br />

Infolgedessen war er meist schlechter Laune und chronisch gereizt. Beide<br />

Eltern gaben sich große Mühe, ein frommes Leben zu führen, mit dem<br />

Result<strong>at</strong>, daß es nur zu oft zu Szenen kam. An dieser Schwierigkeit zerbrach<br />

dann später auch begreiflicherweise sein Glaube.<br />

Damals h<strong>at</strong>ten seine Reizbarkeit und Unbefriedigtheit zugenommen, und<br />

sein Zustand erfüllte mich mit Besorgnis. Meine Mutter vermied alles, was<br />

ihn hätte aufregen können, und ließ sich auf keine Dispute ein. Obschon ich<br />

die Weisheit ihres Verhaltens anerkennen mußte, konnte ich oft mein eigenes<br />

Temperament nicht zügeln. Seinen Affektausbrüchen gegenüber verhielt ich<br />

mich allerdings passiv, aber wenn er in zugänglicher Laune zu sein schien, so<br />

versuchte ich des öfteren ein Gespräch mit ihm anzuknüpfen, in der Absicht,<br />

etwas Näheres über seine inneren Vorgänge und sein Selbstverständnis zu<br />

erfahren. Es stand mir nämlich fest, daß ihn etwas Bestimmtes plagte, und ich<br />

vermutete, daß dies mit seiner religiösen Weltanschauung zu tun h<strong>at</strong>te. Aus<br />

einer Reihe <strong>von</strong> Andeutungen war ich überzeugt, daß es Glaubenszweifel<br />

waren. Dies, so kam es mir vor, konnte nur der Fall sein, wenn ihm die nötige<br />

Erfahrung fehlte. Aus meinen Ansätzen zu Diskussionen lernte ich in der T<strong>at</strong>,<br />

daß etwas Derartiges vorliegen mußte, denn auf alle meine Fragen erfolgten<br />

entweder die mir bekannten leblosen theologischen Antworten oder ein<br />

resigniertes Achselzucken, die meinen Widerspruch reizten. Ich konnte nicht<br />

verstehen, daß er nicht jede Gelegenheit ergriff, sich mit seiner Situ<strong>at</strong>ion<br />

kämpferisch auseinanderzusetzen. Zwar sah ich, daß meine kritischen Fragen<br />

ihn traurig machten, aber ich hoffte dennoch auf ein konstruktives Gespräch.<br />

Es erschien mir fast unvorstellbar, daß er die Gotteserfahrung, die evidenteste<br />

aller Erfahrungen, nicht besitzen sollte. Ich wußte wenigstens so viel <strong>von</strong><br />

Erkenntnistheorie, daß man eine derartige Erkenntnis nicht beweisen kann,<br />

aber es war mir ebenso klar, daß sie auch gar keines Beweises bedurfte, so<br />

wenig wie die Schönheit eines Sonnenaufgangs oder die Angst vor den<br />

Möglichkeiten der Nachtwelt mir bewiesen werden mußten. Ich versuchte, in<br />

wahrscheinlich sehr ungeschickter Weise, ihm diese Selbstverständlichkeiten<br />

zu vermitteln, in der hoffnungsvollen Absicht, ihm zu helfen, sein besonderes<br />

Schicksal, das ihm unvermeidlicherweise zugefallen war, zu ertragen. Er<br />

mußte ja mit jemandem hadern, und er t<strong>at</strong> dies mit seiner Familie und sich<br />

selbst. Warum t<strong>at</strong> er es nicht<br />

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