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Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung - Mahs.at

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Durch die Gespräche mit Philemon verdeutlichte sich mir die<br />

Unterschiedenheit zwischen mir und meinem gedanklichen Objekt. Auch er<br />

war mir sozusagen objektiv gegenübergetreten, und ich verstand, daß etwas in<br />

mir ist, was Dinge aussprechen kann, die ich nicht weiß und nicht meine,<br />

Dinge, die vielleicht sogar gegen mich gerichtet sind.<br />

Psychologisch stellte Philemon eine überlegene Einsicht dar. Er war für<br />

mich eine geheimnisvolle Figur. Zu Zeiten kam er mir fast wie physisch real<br />

vor. Ich ging mit ihm im Garten auf und ab, und er war mir das, was die Inder<br />

als Guru bezeichnen.<br />

Jedesmal, wenn sich eine neue Personifik<strong>at</strong>ion abzeichnete, empfand ich es<br />

beinahe als eine persönliche Niederlage. Es hieß: «Auch das hast du solange<br />

nicht gewußt!» und Angst beschlich mich, daß die Reihe solcher Gestalten<br />

vielleicht endlos sein und ich mich in Abgründe bodenloser Unwissenheit<br />

verlieren könnte. Mein Ich fühlte sich entwertet, obwohl reichliche äußere<br />

Erfolge mich eines «Besseren» hätten belehren können. Ich hätte mir damals<br />

in meinen «Finsternissen» (Horridas nostrae mentis purga tenebras, sagt die<br />

Aurora Consurgens 8 ) nichts Besseres gewünscht als einen wirklichen,<br />

konkreten Guru, einen überlegen Wissenden und Könnenden, der mir die<br />

unwillkürlichen Schöpfungen meiner Phantasie entwirrt hätte. Diese Aufgabe<br />

übernahm Philemon, den ich in dieser Hinsicht nolens volens als<br />

Psychagogen anerkennen mußte. Er h<strong>at</strong> mir in der T<strong>at</strong> erleuchtende <strong>Gedanken</strong><br />

vermittelt.<br />

Mehr als fünfzehn Jahre später besuchte mich ein älterer und<br />

hochgebildeter Inder, ein Freund Gandhis, und wir unterhielten uns über<br />

indische Erziehung, speziell über die Beziehung <strong>von</strong> Guru und Chelah. Ich<br />

fragte ihn zögernd, ob er mir vielleicht Auskunft geben könnte über N<strong>at</strong>ur und<br />

Charakter seines eigenen Guru, worauf er in einem m<strong>at</strong>ter-of-fact-Ton<br />

antwortete: «Oh ja, es war Chankaracharya.»<br />

«Sie meinen doch nicht den Komment<strong>at</strong>or der Veden?», bemerkte ich.<br />

«Der ist doch vor vielen Jahrhunderten gestorben.»<br />

«Ja, den meine ich», sagte er zu meinem größten Erstaunen.<br />

«Sie meinen also einen Geist ?» fragte ich.<br />

«N<strong>at</strong>ürlich war es ein Geist», bestätigte er.<br />

In diesem Augenblick fiel mir Philemon ein.<br />

' Eine alchemistische, dem Thomas <strong>von</strong> Aquin zugeschriebene Schrift. Übers.:<br />

Reinige die schrecklichen Finsternisse unseres Geistes.<br />

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