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Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung - Mahs.at

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tete. Mit dieser Einsicht konnte ich wieder schreiben, obwohl ich voraussah,<br />

daß niemand meine Auffassung begreifen würde.<br />

Rückschauend kann ich sagen, daß ich der Einzige bin, der die zwei<br />

Probleme, die Freud am meisten interessiert haben, sinngemäß weitergeführt<br />

h<strong>at</strong>: das der «archaischen Reste» und das der Sexualität. Es ist ein<br />

weitverbreiteter Irrtum zu meinen, ich sähe den Wert der Sexualität nicht. Im<br />

Gegenteil, sie spielt in meiner Psychologie eine große Rolle, nämlich als<br />

wesentlicher - wenn auch nicht einziger - Ausdruck der psychischen<br />

Ganzheit. Es war aber mein Hauptanliegen, über ihre persönliche Bedeutung<br />

und die einer biologischen Funktion hinaus ihre geistige Seite und ihren<br />

numinosen Sinn zu erforschen und zu erklären; also das auszudrücken, wo<strong>von</strong><br />

Freud fasziniert war, was er aber nicht fassen konnte. Die Schriften «Die<br />

Psychologie der Übertragung» und «Mysterium Coniunctionis» enthalten<br />

meine <strong>Gedanken</strong> über dieses Thema. Als Ausdruck eines chthonischen<br />

Geistes ist die Sexualität <strong>von</strong> größter Bedeutung. Denn jener Geist ist das<br />

«andere Gesicht Gottes», die dunkle Seite des Gottesbildes. Die Fragen des<br />

chthonischen Geistes beschäftigten mich, seit ich mit der <strong>Gedanken</strong>welt der<br />

Alchemie in Berührung gekommen war. Im Grunde genommen wurden sie in<br />

jenem frühen Gespräch mit Freud geweckt, als ich seine Ergriffenheit durch<br />

die Sexualität fühlte, ohne sie mir jedoch erklären zu können.<br />

Freuds größte Leistung bestand wohl darin, daß er seine neurotischen<br />

P<strong>at</strong>ienten ernst nahm und auf ihre eigentümliche und individuelle Psychologie<br />

einging. Er h<strong>at</strong>te den Mut, die Kasuistik sprechen zu lassen und auf diese<br />

Weise in die individuelle Psychologie des Kranken einzudringen. Er sah<br />

sozusagen mit den Augen des P<strong>at</strong>ienten und gelangte auf diese Weise zu<br />

einem tieferen Verständnis der Krankheit, als es bis dahin möglich gewesen<br />

war. Hier besaß er Unvoreingenommenheit und Mut. Dies führte ihn dazu,<br />

eine Menge <strong>von</strong> Vorurteilen zu überwinden. Wie ein alttestament-licher<br />

Prophet h<strong>at</strong> er es unternommen, falsche Götter zu stürzen, den Vorhang<br />

wegzuziehen <strong>von</strong> einem Haufen <strong>von</strong> Unehrlichkeit und Heucheleien und<br />

mitleidlos die Fäulnis der zeitgenössischen Seele dem Tageslicht<br />

preiszugeben. Er h<strong>at</strong> es nicht gescheut, die Unpopularität eines solchen<br />

Unterfangens einzustecken. Der Antrieb, den er damit unserer Kultur gegeben<br />

h<strong>at</strong>, bestand in<br />

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