30.12.2012 Aufrufe

Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung - Mahs.at

Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung - Mahs.at

Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung - Mahs.at

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Ich fand ihn außerordentlich intelligent, scharfsinnig und in jeder Beziehung<br />

bemerkenswert. Und doch blieben meine ersten Eindrücke <strong>von</strong> ihm unklar,<br />

zum Teil auch unverstanden.<br />

Was er mir über seine Sexualtheorie sagte, machte mir Eindruck.<br />

Trotzdem konnten seine Worte meine Bedenken und Zweifel nicht beheben.<br />

Ich brachte sie mehr als einmal vor, aber jedesmal hielt er mir meinen<br />

Mangel an Erfahrung entgegen. Freud h<strong>at</strong>te recht: damals besaß ich noch<br />

nicht genügend Erfahrung, um meine Einwände zu begründen. Ich sah, daß<br />

seine Sexualtheorie ungeheuer bedeutsam für ihn war, im persönlichen wie<br />

im philosophischen Sinne. Das beeindruckte mich, aber ich konnte mir nicht<br />

darüber klar werden, inwieweit diese positive Bewertung mit subjektiven<br />

Voraussetzungen bei ihm zusammenhing und inwieweit mit beweiskräftigen<br />

Erfahrungen.<br />

Vor allem schien mir Freuds Einstellung zum Geist in hohem Maße<br />

fragwürdig. Wo immer bei einem Menschen oder in einem Kunstwerk der<br />

Ausdruck einer Geistigkeit zutage tr<strong>at</strong>, verdächtigte er sie und ließ<br />

«verdrängte Sexualität» durchblicken. Was sich nicht unmittelbar als<br />

Sexualität deuten ließ, bezeichnete er als «Psychosexualität». Ich wandte ein,<br />

daß seine Hypothese, logisch zu Ende gedacht, zu einem vernichtenden<br />

Urteil über die Kultur führe. Kultur erschiene als bloße Farce, als morbides<br />

Ergebnis verdrängter Sexualität. «Ja», bestätigte er, «so ist es. Das ist ein<br />

Schicksalsfluch, gegen den wir machtlos sind.» Ich war keineswegs bereit,<br />

ihm recht zu geben oder es dabei bewenden zu lassen. Doch fühlte ich mich<br />

einer Diskussion noch nicht gewachsen.<br />

Noch etwas anderes wurde mir bei der ersten Begegnung bedeutsam. Es<br />

betrifft Dinge, die ich jedoch erst nach dem Ende unserer Freundschaft ganz<br />

durchdenken und verstehen konnte. Es war unverkennbar, daß die<br />

Sexualtheorie Freud in ungewöhnlichem Maße am Herzen lag. Wenn er<br />

da<strong>von</strong> sprach, wurde sein Ton dringlich, fast ängstlich, und <strong>von</strong> seiner<br />

kritischen und skeptischen Art war nichts mehr zu bemerken. Ein seltsam<br />

bewegter Ausdruck, dessen Ursache ich mir nicht erklären konnte, belebte<br />

dabei sein Gesicht. Das machte mir einen starken Eindruck: die Sexualität<br />

bedeutete ihm ein Numinosum. Mein Eindruck wurde bestätigt durch ein<br />

Gespräch, das etwa drei Jahre später (1910) wiederum in Wien st<strong>at</strong>tfand.<br />

Ich erinnere mich noch lebhaft, wie Freud zu mir sagte: «Mein lieber <strong>Jung</strong>,<br />

versprechen Sie mir, nie die Sexualtheorie aufzugeben.<br />

154

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!