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Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung - Mahs.at

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Im Traum befand ich mich in einer Versammlung erlauchter Geister aus<br />

früheren Jahrhunderten und h<strong>at</strong>te ein ähnliches Gefühl wie später gegenüber<br />

den «erlauchten Ahnen», die sich im schwarzen Stein meiner Vision <strong>von</strong><br />

1944 befanden. Die Unterhaltung wurde auf L<strong>at</strong>einisch geführt. Ein Herr mit<br />

einer Allongeperücke sprach mich an und stellte mir eine schwierige Frage,<br />

an deren Inhalt ich mich beim Erwachen nicht mehr erinnern konnte. Ich<br />

verstand ihn, beherrschte die Sprache aber nicht genügend, um ihm l<strong>at</strong>einisch<br />

zu antworten. Das beschämte mich aufs tiefste, so daß die Emotion mich<br />

weckte.<br />

Schon im Augenblick des Erwachens fiel mir meine damalige Arbeit<br />

«Wandlungen und Symbole der Libido» ein, und ich h<strong>at</strong>te derartige<br />

Minderwertigkeitsgefühle ob der nicht beantworteten Frage, daß ich sofort<br />

den Zug nach Hause nahm, um mich an die Arbeit zu begeben. Es wäre mir<br />

unmöglich gewesen, die Velotour fortzusetzen und noch drei Tage dafür zu<br />

opfern. Ich mußte arbeiten, um die Antwort zu finden.<br />

Erst viel später verstand ich den Traum und meine Reaktion:<br />

der Herr in der Allongeperücke war eine Art «Ahnen- oder Totengeist», der<br />

seine Fragen an mich gerichtet h<strong>at</strong>te, und ich wußte keine Antwort! Es war<br />

damals noch zu früh, ich war noch nicht so weit; aber ich h<strong>at</strong>te eine dunkle<br />

Ahnung, daß ich durch die Arbeit an meinem Buch die mir gestellte Frage<br />

beantwortete. Sie wurde gewissermaßen <strong>von</strong> meinen geistigen Vorfahren an<br />

mich gestellt in der Hoffnung und Erwartung, daß sie dann hören würden,<br />

was sie zu ihrer Zeit nicht in Erfahrung bringen konnten; es mußte in den<br />

nachfolgenden Jahrhunderten erst erschaffen werden. Wären Frage und<br />

Antwort in der Ewigkeit, schon <strong>von</strong> jeher, vorhanden gewesen, so hätte es<br />

meiner Anstrengung keineswegs bedurft, und sie hätten in irgendeinem<br />

anderen Jahrhundert entdeckt werden können. Es scheint zwar ein<br />

unbegrenztes Wissen in der N<strong>at</strong>ur vorhanden zu sein, das aber nur unter<br />

passenden Zeitumständen vom Bewußtsein erfaßt werden kann. Es geschieht<br />

vermutlich wie in der Seele des Einzelnen: er trägt vielleicht viele Jahre lang<br />

eine Ahnung <strong>von</strong> etwas in sich herum, wird aber dessen erst in einem<br />

gewissen späteren Moment wirklich gewahr.<br />

Als ich später die «Septem Sermones ad Mortuos» schrieb, waren es<br />

wiederum die Toten, welche die entscheidenden Fragen an mich richteten. Sie<br />

kamen - so hieß es - zurück <strong>von</strong> Jerusalem, weil sie<br />

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