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Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung - Mahs.at

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deckten, nur Anfänge ohne Fortsetzungen, Kontingenzen' ohne Zusammenhang,<br />

Erkenntnisse, die sich zu immer kleineren Kreisen verengerten,<br />

Unzulänglichkeiten, die Probleme zu sein beanspruchten, Horizonte <strong>von</strong><br />

drangvoller Enge und die unabsehbare Wüste der Routine. Für ein halbes Jahr<br />

schloß ich mich in die Klostermauern ein, um mich an das Leben und den<br />

Geist einer Irrenanstalt zu gewöhnen und las mich durch die fünfzig Bände<br />

der «Allgemeinen Zeitschrift für Psychi<strong>at</strong>rie» hindurch, seit ihrem Anfang,<br />

um die psychi<strong>at</strong>rische Mentalität kennenzulernen. Ich wollte wissen, wie der<br />

menschliche Geist auf den Anblick seiner eigenen Zerstörung reagiert, denn<br />

Psychi<strong>at</strong>rie erschien mir als ein artikulierter Ausdruck jener biologischen<br />

Reaktion, die den sogenannten gesunden Geist im Anblick der<br />

Geisteskrankheit befällt. Meine Fachkollegen erschienen mir ebenso<br />

interessant wie die Kranken. Ich habe deshalb in den folgenden Jahren eine<br />

ebenso geheime wie instruktive St<strong>at</strong>istik über die hereditären<br />

Vorbedingungen meiner schweizerischen Kollegen ausgearbeitet, zu meiner<br />

persönlichen Erbauung sowohl wie zum Verständnis der psychi<strong>at</strong>rischen<br />

Reaktion.<br />

Ich brauche wohl kaum zu erwähnen, daß meine Konzentr<strong>at</strong>ion und meine<br />

selbstauferlegte Klausur meine Kollegen befremdete. Sie wußten n<strong>at</strong>ürlich<br />

nicht, wie sehr die Psychi<strong>at</strong>rie mich befremdete und wie viel mir daran lag,<br />

mich mit deren Geist bekannt zu machen. Das therapeutische Interesse lag mir<br />

damals fern, aber die p<strong>at</strong>hologischen Varianten der sogenannten Normalität<br />

zogen mich mächtig an, da sie mir die ersehnte Möglichkeit zu einer tieferen<br />

Erkenntnis der Psyche überhaupt boten.<br />

Unter diesen Voraussetzungen begann meine psychi<strong>at</strong>rische Laufbahn,<br />

mein subjektives Experiment, aus dem mein objektives Leben hervorging.<br />

Ich habe weder die Lust noch die Fähigkeit, mich dermaßen außer mich<br />

selbst zu setzen, daß ich me in eigenes Schicksal wirklich objektiv betrachten<br />

könnte. Ich würde dem bekannten autobiographischen Fehler verfallen,<br />

entweder eine Illusion darüber, wie es hätte sein sollen, zu entwickeln, oder<br />

eine Apologie pro vita sua zu verfassen. Schließlich ist man ein Geschehnis,<br />

das sich nicht selber beurteilt, sondern vielmehr dem Urteil anderer - for<br />

better or worse - anheimfällt.<br />

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