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Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung - Mahs.at

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Psychi<strong>at</strong>rische Tätigkeit<br />

Die Jahre am Burghölzli, der Psychi<strong>at</strong>rischen Universitätsklinik <strong>von</strong> Zürich,<br />

waren meine Lehrjahre. Im Vordergrund meines Interesses und meines<br />

Forschens stand die brennende Frage: was geht in den Geisteskranken vor?<br />

Das verstand ich damals noch nicht, und unter meinen Kollegen befand sich<br />

niemand, der sich um dieses Problem gekümmert hätte. Der Psychi<strong>at</strong>rie-<br />

Unterricht war darauf angelegt, <strong>von</strong> der kranken Persönlichkeit sozusagen zu<br />

abstrahieren und sich mit Diagnosen, mit Symptombeschreibungen und<br />

St<strong>at</strong>istik 2u begnügen. Vom sogenannten klinischen Standpunkt aus, der damals<br />

vorherrschte, ging es den Ärzten nicht um den Geisteskranken als<br />

Menschen, als Individualität, sondern man h<strong>at</strong>te den P<strong>at</strong>ienten Nr. X mit einer<br />

langen Liste <strong>von</strong> Diagnosen und Symptomen zu behandeln. Man<br />

«etikettierte» ihn, stempelte ihn ab mit einer Diagnose, und damit war der Fall<br />

zum größten Teil erledigt. Die Psychologie des Geisteskranken spielte<br />

überhaupt keine Rolle.<br />

In dieser Situ<strong>at</strong>ion wurde Freud wesentlich für mich, und zwar vor allem<br />

durch seine grundlegenden Untersuchungen über die Psychologie der<br />

Hysterie und des Traumes. Seine Auffassungen zeigten mir einen Weg zu<br />

weiteren Untersuchungen und zum Verständnis der individuellen Fälle. Freud<br />

brachte die psychologische Frage in die Psychi<strong>at</strong>rie, obwohl er selber kein<br />

Psychi<strong>at</strong>er, sondern Neurologe war.<br />

Ich erinnere mich noch gut an einen Fall, der mich damals sehr<br />

beeindruckte. Es handelte sich um eine junge Frau, die mit der Etikette<br />

«Melancholie» in die Klinik eingeliefert worden war und sich auf meiner<br />

Abteilung befand. Man machte die Untersuchungen mit der üblichen Sorgfalt:<br />

Anamnese, Tests, körperliche Untersuchungen usw. Diagnose: Schizophrenie,<br />

oder, wie man damals sagte, «Dementia praecox». Prognose: schlecht.<br />

Ich wagte zuerst nicht, an der Diagnose zu zweifeln. Damals war ich noch<br />

ein junger Mann, ein Anfänger, und hätte es mir nicht zugetraut, eine<br />

abweichende Diagnose zu stellen. Und doch erschien mir der Fall<br />

merkwürdig. Ich h<strong>at</strong>te den Eindruck, es handle<br />

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