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Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung - Mahs.at

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tr<strong>at</strong>en, während ich r<strong>at</strong>los im Dunkeln tappte. Die Hauptaufgabe der<br />

Psychi<strong>at</strong>rie sah ich in der Erkenntnis der Dinge, die sich im Innern des<br />

kranken Geistes ereignen, und da<strong>von</strong> wußte ich noch nichts. Da stak ich nun<br />

in einem Beruf, in dem ich mich überhaupt nicht auskannte!<br />

Eines Abends spät ging ich durch die Abteilung, sah die alte Frau mit ihren<br />

rätselhaften Bewegungen und fragte mich wieder einmal:<br />

Warum muß das sein? Da ging ich zu unserer alten Oberschwester und<br />

erkundigte mich, ob die P<strong>at</strong>ientin immer schon so gewesen sei. «Ja»,<br />

antwortete sie, «aber meine Vorgängerin erzählte mir, sie habe früher Schuhe<br />

hergestellt.» Daraufhin konsultierte ich nochmals ihre alte<br />

Krankengeschichte, und dort hieß es, daß sie Bewegungen mache wie beim<br />

Schustern. Früher hielten die Schuster die Schuhe zwischen den Knien und<br />

zogen die Fäden mit ganz ähnlichen Bewegungen durch das Leder. (Bei Dorf<br />

schustern kann man das auch heute noch sehen). Als die P<strong>at</strong>ientin bald darauf<br />

starb, kam ihr älterer Bruder zum Begräbnis. - «Warum ist Ihre Schwester<br />

krank geworden?» fragte ich ihn. Da erzählte er, sie habe einen Schuhmacher<br />

geliebt, der sie aber aus irgendeinem Grunde nicht heir<strong>at</strong>en wollte, und<br />

damals sei sie «übergeschnappt». - Die Schuhmacherbewegungen zeigten ihre<br />

Identität mit dem Geliebten, die bis zum Tode dauerte.<br />

Damals erhielt ich eine erste Ahnung <strong>von</strong> den psychischen Ursprüngen der<br />

sogenannten «Dementia praecox». Von nun an widmete ich alle<br />

Aufmerksamkeit den Sinnzusammenhängen in der Psychose.<br />

Ich erinnere mich gut der P<strong>at</strong>ientin, an deren Geschichte mir die<br />

psychologischen Hintergründe der Psychose und vor allem der «unsinnigen<br />

Wahnideen» klar wurden. Ich verstand in diesem Falle zum erstenmal die bis<br />

dahin als sinnlos erklärte Sprache der Schizophrenen. Es war Babette S.,<br />

deren Geschichte ich publiziert habe 2 . 1908 hielt ich im R<strong>at</strong>haus <strong>von</strong> Zürich<br />

einen Vortrag über sie.<br />

Die P<strong>at</strong>ientin stammte aus der Zürcher Altstadt, aus den engen und<br />

schmutzigen Gassen, wo sie in ärmlichen Verhältnissen zur Welt gekommen<br />

und aufgewachsen war. Die Schwester war eine Prostituierte, der V<strong>at</strong>er<br />

Trinker. Sie erkrankte mit neununddreißig<br />

2 «Über die Psychologie der Dementia praecox», Halle 1907, und «Der Inhalt der<br />

Psychose», Wien 1908, in Ges. Werke I, 1966.<br />

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