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Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung - Mahs.at

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Ihre Weisheit gehört ihnen, und mir gehört nur das, was aus mir selber<br />

hervorgeht. In Europa vollends kann ich keine Anleihen beim Osten machen,<br />

sondern muß aus mir selber leben - aus dem, was mein Inneres sagt, oder was<br />

die N<strong>at</strong>ur mir bringt.<br />

Ich unterschätze durchaus nicht die bedeutende Gestalt des indischen<br />

Heiligen, maße mir aber keineswegs das Vermögen an, ihn als isoliertes<br />

Phänomen richtig einzuschätzen. Ich weiß z. B. nicht, ob die Weisheit, die er<br />

ausspricht, eine eigene Offenbarung, oder ein Sprichwort ist, das seit tausend<br />

Jahren auf den Landstraßen zirkuliert. Ich erinnere mich an eine typische<br />

Begebenheit in Ceylon. Zwei Bauern fuhren mit den Rädern ihrer Karren in<br />

einer engen Straße ineinander. St<strong>at</strong>t des zu erwartenden Streites murmelte<br />

jeder mit zurückhaltender Höflichkeit Worte, die wie «adükan anätman»<br />

lauteten und bedeuteten: «Vorübergehende Störung, keine (individuelle)<br />

Seele.» War das einmalig? War es typisch indisch?<br />

Was mich in Indien hauptsächlich beschäftigte, war die Frage nach der<br />

psychologischen N<strong>at</strong>ur des Bösen. Es war mir sehr eindrücklich, wie dieses<br />

Problem vom indischen Geistesleben integriert wird, und ich gewann eine mir<br />

neue Auffassung darüber. Auch in der Unterhaltung mit gebildeten Chinesen<br />

h<strong>at</strong> es mich immer wieder beeindruckt, daß es überhaupt möglich ist, das<br />

sogenannte «Böse» zu integrieren, ohne dabei «das Gesicht zu verlieren». Das<br />

ist bei uns im Westen nicht der Fall. Für den östlichen Menschen scheint das<br />

moralische Problem nicht an erster Stelle zu stehen wie bei uns. Das Gute und<br />

das Böse sind für ihn sinngemäß in der N<strong>at</strong>ur enthalten und im Grunde<br />

genommen nur graduelle Unterschiede einer und derselben Sache.<br />

Es machte mir tiefen Eindruck, als ich sah, daß die indische Geistigkeit<br />

ebensoviel vom Bösen h<strong>at</strong> wie vom Guten. Der christliche Mensch strebt<br />

nach dem Guten und verfällt dem Bösen; der Inder hingegen fühlt sich<br />

außerhalb <strong>von</strong> Gut und Böse oder sucht diesen Zustand durch Medit<strong>at</strong>ion oder<br />

Yoga zu erreichen. Hier erhebt sich jedoch mein Einwand: bei einer solchen<br />

Einstellung haben weder das Gute noch das Böse eigentlich Kontur, und dies<br />

bewirkt einen gewissen Stillstand. Man glaubt nicht recht ans Böse, man<br />

glaubt nicht recht ans Gute. Am ehesten bedeuten sie das, was mein Gutes<br />

oder mein Böses ist, was mir als gut oder als böse erscheint. Man könnte<br />

paradoxerweise sagen, die indische Geistigkeit entbehre ebenso sehr des<br />

Bösen wie des Guten, oder aber sie sei dermaßen <strong>von</strong> den Gegensätzen<br />

belastet, daß sie des Nirdvandva,<br />

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