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Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung - Mahs.at

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Als die letzte Seite der Übersetzung beendet war und die ersten<br />

Druckfahnen erschienen, starb der alte Meister Lau Nai Süan. Es war, wie<br />

wenn er sein Werk vollendet und die letzte Botschaft des sterbenden alten<br />

China dem Europäer Übermacht hätte. Wilhelm h<strong>at</strong> ihm den Wunschtraum<br />

vom unvergleichlichen Schüler erfüllt.<br />

Als ich Wilhelm kennenlernte, schien er ein völliger Chinese, in der Mimik<br />

sowohl wie in der Schrift und der Sprache. Er h<strong>at</strong>te den östlichen Standpunkt<br />

angenommen, und d ie alte chinesische Kultur h<strong>at</strong>te ihn ganz durchdrungen. In<br />

Europa angelangt, nahm er am China-Institut in Frankfurt am Main seine<br />

Lehrtätigkeit auf; hier wie auch bei seinen Vorträgen vor Laien bedrängten<br />

ihn jedoch aufs neue die Bedürfnisse des europäischen Geistes. Mehr und<br />

mehr tr<strong>at</strong>en die christlichen Aspekte und Formen wieder hervor. Einige<br />

Vorträge, die ich später <strong>von</strong> ihm hörte, unterschieden sich kaum mehr <strong>von</strong><br />

Predigten.<br />

Wilhelms Rückverwandlung und seine Wiederassimilierung an den Westen<br />

erschienen mir etwas unreflektiert und darum gefährlich. Ich fürchtete, daß er<br />

dadurch in Konflikt mit sich selber ger<strong>at</strong>en mußte. Da es sich, wie ich zu<br />

erkennen glaubte, um eine passive Assimil<strong>at</strong>ion, d. h. um eine Beeinflussung<br />

durch das Milieu, handelte, bestand das Risiko eines rel<strong>at</strong>iv unbewußten<br />

Konfliktes, eines Zusammenpralls der westlichen und östlichen Seele. Wenn,<br />

wie ich vermutete, die christliche Einstellung ursprünglich dem Einfluß<br />

Chinas gewichen war, so konnte jetzt das Umgekehrte st<strong>at</strong>tfinden, die<br />

europäische Sphäre konnte gegenüber dem Osten wiederum die Oberhand<br />

gewinnen. Wenn dieser Prozeß aber ohne eine tiefgehende bewußte<br />

Auseinandersetzung st<strong>at</strong>tfindet, dann droht ein unbewußter Konflikt, der auch<br />

den körperlichen Gesundheitszustand in Mitleidenschaft ziehen kann.<br />

Nachdem ich Wilhelms Vorträge gehört h<strong>at</strong>te, versuchte ich, ihn auf die<br />

ihm drohende Gefahr aufmerksam zu machen. Ich sagte ihm wörtlich: «Mein<br />

lieber Wilhelm, bitte nehmen Sie es mir nicht übel, aber ich habe das Gefühl,<br />

daß der Westen Sie wieder übernimmt, und daß Sie Ihrer Aufgabe, den Osten<br />

dem Westen zu übermitteln, untreu werden.»<br />

Er antwortete mir: «Ich glaube. Sie haben recht, es übermannt mich hier<br />

etwas. Aber was tun ?»<br />

Wenige Jahre später, zur Zeit, als Wilhelm in meinem Hause als Gast<br />

weilte, stellte sich ein Rezidiv der ostasi<strong>at</strong>ischen Amoeben-dysenterie bei ihm<br />

ein, welche er etwa zwanzig Jahre früher acqui-<br />

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