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Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung - Mahs.at

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iert h<strong>at</strong>te. Die Krankheit verschlimmerte sich in den folgenden Mon<strong>at</strong>en, und<br />

ich hörte, daß er sich im Spital befand. Ich fuhr nach Frankfurt, um ihn zu<br />

besuchen, und fand einen Schwerkranken. Die Ärzte h<strong>at</strong>ten zwar die<br />

Hoffnung nicht aufgegeben, und auch Wilhelm selber sprach <strong>von</strong> Plänen, die<br />

er ausführen wollte, wenn es ihm wieder besser ginge. Ich hoffte mit ihm,<br />

h<strong>at</strong>te aber meine Zweifel. Was er mir damals anvertraute, bestätigte meine<br />

Vermutungen. In seinen <strong>Träume</strong>n befand er sich wieder auf den endlosen<br />

Pfaden öder asi<strong>at</strong>ischer Steppen - im verlassenen China -sich zurückfühlend<br />

in das Problem, das ihm China gestellt und dessen Beantwortung ihm der<br />

Westen verwehrt h<strong>at</strong>te. Er war sich dieser Frage zwar bewußt, aber h<strong>at</strong>te<br />

keine Lösung zu finden vermocht. Die Krankheit zog sich über Mon<strong>at</strong>e<br />

hinaus.<br />

Einige Wochen vor seinem Tode, als ich schon für längere Zeit keine<br />

Nachrichten mehr <strong>von</strong> ihm h<strong>at</strong>te, wurde ich beim Einschlafen <strong>von</strong> einer<br />

Vision geweckt. An meinem Bett stand ein Chinese in einem dunkelblauen<br />

Obergewand, die Hände gekreuzt in den Ärmeln. Er verneigte sich tief vor<br />

mir, wie wenn er mir eine Botschaft überbringen wollte. Ich wußte, worum es<br />

sich handelte. Das Merkwürdige an der Vision war ihre außerordentliche<br />

Deutlichkeit. Nicht nur sah ich jedes Fältchen in seinem Gesicht, sondern<br />

auch jeden Faden im Gewebe seines Gewandes.<br />

Man könnte das Problem <strong>von</strong> Wilhelm auch als einen Konflikt zwischen<br />

Bewußtsein und Unbewußtem auffassen, welcher sich bei ihm als Konflikt<br />

zwischen West und Ost darstellte. Ich glaubte, seine Situ<strong>at</strong>ion zu verstehen,<br />

denn ich h<strong>at</strong>te ja das gleiche Problem wie er und wußte, was es heißt, in<br />

diesem Konflikt zu stehen. Zwar h<strong>at</strong> sich Wilhelm mir gegenüber auch bei<br />

unserer letzten Zusammenkunft nicht deutlich ausgesprochen. Aber ich<br />

merkte trotzdem, daß er aufs äußerste interessiert war, wenn ich den<br />

psychologischen Gesichtspunkt hereinbrachte. Sein Interesse währte aber nur<br />

solange, als es um das Objektive ging, um Medit<strong>at</strong>ionen oder um religionspsychologische<br />

Fragen. Da war alles in Ordnung. Wenn ich aber<br />

versuchte, an die aktuellen Probleme seines inneren Konfliktes zu rühren,<br />

spürte ich sofort ein Zögern und ein sich innerlich Verschließen, weil es ihm<br />

ans Blut ging; ein Phänomen, das ich bei vielen Männern <strong>von</strong> Bedeutung<br />

beobachtet habe. js ist ein «Unbetretenes, nicht zu Betretendes», das man<br />

nicht forcieren kann und soll, ein Schicksal, das menschlichen Eingriff nicht<br />

erträgt.<br />

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