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Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung - Mahs.at

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Es begann damit, daß eine Unruhe in mir war, aber ich wußte nicht, was sie<br />

bedeutete, oder was «man» <strong>von</strong> mir wollte. Es war eine seltsam geladene<br />

Atmosphäre um mich herum, und ich h<strong>at</strong>te das Gefühl, als sei die Luft erfüllt<br />

<strong>von</strong> gespenstischen Entitäten. Dann fing es an, im Hause zu spuken: meine<br />

älteste Tochter sah in der Nacht eine weiße Gestalt durchs Zimmer gehen. Die<br />

andere Tochter erzählte - unabhängig <strong>von</strong> der ersten - es sei ihr zweimal in<br />

der Nacht die Decke weggerissen worden, und mein neunjähriger Sohn h<strong>at</strong>te<br />

einen Angsttraum. Am Morgen verlangte er <strong>von</strong> der Mutter Farbstifte, und er,<br />

der sonst nie ein Bild gemacht h<strong>at</strong>te, zeichnete den Traum. Er nannte es «Das<br />

Bild vom Fischer». Durch die Mitte des Bildes läuft ein Fluß, ein Fischer mit<br />

einer Angelrute steht am Ufer. Er h<strong>at</strong> einen Fisch gefangen. Auf dem Kopf<br />

des Fischers befindet sich ein Kamin, aus dem Feuer schlägt und Rauch<br />

aufsteigt. Von der anderen Seite des Ufers kommt der Teufel durch die Luft<br />

geflogen. Er flucht, daß ihm die Fische gestohlen würden. Aber über dem<br />

Fischer schwebt ein Engel, der sagt: «Du darfst ihm nichts tun: er fängt nur<br />

die bösen Fische!» Dieses Bild h<strong>at</strong>te mein Sohn an einem Samstagmorgen<br />

gezeichnet.<br />

Am Sonntag gegen fünf Uhr nachmittags läutete es an der Haustür Sturm.<br />

Es war ein heller Sommertag, und die zwei Mädchen waren in der Küche, <strong>von</strong><br />

der man den offenen Pl<strong>at</strong>z vor der Haustür übersehen kann. Ich befand mich<br />

in der Nähe der Glocke, hörte sie und sah, wie der Klöppel sich bewegte. Alle<br />

liefen sofort an die Tür, um nachzuschauen, wer da sei, aber es war niemand<br />

da! Wir haben uns nur so angeschaut! Die Luft war dick, sage ich Ihnen! Da<br />

wußte ich: Jetzt muß etwas geschehen. Das ganze Haus war angefüllt wie <strong>von</strong><br />

einer Volksmenge, dicht voll <strong>von</strong> Geistern. Sie standen bis unter die Tür, und<br />

man h<strong>at</strong>te das Gefühl, kaum <strong>at</strong>men zu können. N<strong>at</strong>ürlich brannte in mir die<br />

Frage: «Um Gottes willen, was ist denn das?» Da riefen sie laut im Chor:<br />

«Wir kommen zurück <strong>von</strong> Jerusalem, wo wir nicht fanden, was wir suchten.»<br />

Diese Worte entsprechen den ersten Zeilen der «Septem Sermones ad<br />

Mortuos».<br />

Dann fing es an, aus mir herauszufließen, und in drei Abenden war die<br />

Sache geschrieben. Kaum h<strong>at</strong>te ich die Feder angesetzt, fiel die ganze<br />

Geisterschar zusammen. Der Spuk war beendet. Das Zimmer wurde ruhig und<br />

die Atmosphäre rein. Bis zum nächsten Abend h<strong>at</strong>te sich wieder etwas<br />

angesammelt, und dann ging es <strong>von</strong> neuem so. Das war 1916.<br />

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