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Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung - Mahs.at

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den. Da ich zudem für viele meiner Kameraden und auch für maßgebende<br />

Leute (lies Lehrer) ein unsymp<strong>at</strong>hisches Wesen besaß, das Mißtrauen und<br />

vorwurfsvolle Meinungen erzeugte, so bestand auch keine Hoffnung, einen<br />

Gönner zu finden, der meinen Wunsch hätte unterstützen können. Ich<br />

entschloß mich daher schließlich zum Studium der Medizin mit dem nicht<br />

gerade angenehmen Gefühl, daß es nicht gut sei, sein Leben mit einem derartigen<br />

Kompromiß zu beginnen. Immerhin fühlte ich mich durch diesen<br />

unwiderruflichen Entschluß beträchtlich erleichtert.<br />

Jetzt erhob sich aber die peinliche Frage: Woher kommt das zum Studium<br />

nötige Geld? Mein V<strong>at</strong>er konnte es nur zum Teil aufbringen. Er bewarb sich<br />

aber um ein Stipendium bei der Universität, das ich zu meiner Beschämung<br />

dann auch erhielt. Ich schämte mich weniger wegen der T<strong>at</strong>sache, daß unsere<br />

Armut damit vor aller Welt bekräftigt wurde, als vielmehr wegen meiner<br />

heimlichen Überzeugung, daß sozusagen alle Leute «oben», d. h. die Maßgebenden,<br />

mir übel gesinnt seien. Ich hätte diese Güte <strong>von</strong> «oben» nie erwartet.<br />

Offenbar h<strong>at</strong>te ich profitiert <strong>von</strong> dem günstigen Prestige meines V<strong>at</strong>ers, der<br />

ein guter und unkomplizierter Mensch war. Ich fühlte mich <strong>von</strong> ihm aufs<br />

äußerste verschieden. Ich h<strong>at</strong>te eigentlich zwei <strong>von</strong>einander abweichende<br />

Auffassungen über mich. Nr. l sah meine Persönlichkeit als einen wenig<br />

symp<strong>at</strong>hischen und mäßig begabten jungen Mann mit ehrgeizigen<br />

Ansprüchen, unkontrolliertem Temperament und zweifelhaften Manieren,<br />

bald naiv begeistert, bald kindisch enttäuscht, im innersten Wesen als<br />

weitabgewandten Finsterling. Nr. 2 betrachtete Nr. l als eine schwierige und<br />

undankbare moralische Aufgabe, als eine Art durchzupaukendes Pensum,<br />

erschwert durch eine Reihe <strong>von</strong> Defekten, wie sporadische Faulheit,<br />

Mutlosigkeit, Depression, inepte Begeisterung für Ideen und Dinge, die<br />

niemand schätzt, eingebildete Freundschaften, Beschränktheit, Vorurteil,<br />

Dummheit (M<strong>at</strong>hem<strong>at</strong>ik!), Mangel an Verständnis für andere Menschen,<br />

Unklarheit und Verworrenheit in weltanschaulicher Beziehung, weder Christ<br />

noch sonst etwas. Nr. 2 war überhaupt kein Charakter, sondern eine vita<br />

peracta, geboren, lebend, gestorben, alles in einem, eine Totalschau der<br />

menschlichen N<strong>at</strong>ur selber; sich selber zwar mitleidlos klar, aber unfähig und<br />

wenig gewillt, wenn schon sehnsuchtsvoll, sich selber durch das dichte und<br />

dunkle Medium <strong>von</strong> Nr. l auszusprechen. Nr. l war, wenn Nr. 2 vorherrschte,<br />

in diesem enthalten und aufgehoben, wie umgekehrt Nr. l den anderen<br />

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