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Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung - Mahs.at

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solchen Einseitigkeit haben wir die Vorlage des neti-neti der indischen<br />

Philosophie in moralischer Gestalt. Damit wird der Sittenkodex<br />

gegebenenfalls unweigerlich aufgehoben und die ethische Entscheidung dem<br />

Individuum anheimgestellt. Das ist an sich nichts Neues, sondern h<strong>at</strong> sich in<br />

vorpsychologischer Zeit schon immer als «Pflichtenkollision» ereignet.<br />

Das Individuum ist aber in der Regel dermaßen unbewußt, daß es seine<br />

eigenen Entscheidungsmöglichkeiten überhaupt nicht kennt und aus diesem<br />

Grunde sich immer wieder ängstlich nach äußeren Regeln und Gesetzen<br />

umsieht, an die es sich in seiner R<strong>at</strong>losigkeit halten könnte. Abgesehen <strong>von</strong><br />

der allgemein menschlichen Unzulänglichkeit, liegt ein gutes Stück Schuld an<br />

der Erziehung, die sich ausschließlich nach dem ausrichtet, was man<br />

allgemein weiß, nicht aber <strong>von</strong> dem spricht, was persönliche Erfahrung des<br />

Einzelnen ist. So werden Idealismen gelehrt, <strong>von</strong> denen man meist mit Sicherheit<br />

weiß, daß man sie nie wird erfüllen können, und sie werden <strong>von</strong> Amts<br />

wegen <strong>von</strong> denen gepredigt, die wissen, daß sie selber sie nie erfüllt haben,<br />

noch je erfüllen werden. Diese Lage wird unbesehen hingenommen.<br />

Wer also eine Antwort haben will auf das heute gestellte Problem des<br />

Bösen, der bedarf in erster Linie einer gründlichen Selbsterkenntnis, d. h.<br />

einer bestmöglichen Erkenntnis seiner Ganzheit. Er muß ohne Schonung<br />

wissen, wieviel des Guten er vermag und welcher Schandt<strong>at</strong>en er fähig ist,<br />

und er muß sich hüten, das eine für wirklich und das andere für Illusion zu<br />

halten. Es ist beides wahr als Möglichkeit, und er wird weder dem einen noch<br />

dem anderen ganz entgehen, wenn er - wie er es eigentlich <strong>von</strong> Hause aus<br />

müßte - ohne Selbstbelügung oder Selbsttäuschung leben will.<br />

Von einem derartigen Erkenntnisgrad ist man aber im allgemeinen noch<br />

beinahe hoffnungslos weit entfernt, obschon die Möglichkeit einer tieferen<br />

Selbsterkenntnis bei vielen modernen Menschen durchaus vorhanden wäre.<br />

Solche Selbsterkenntnis wäre darum nötig, weil man nur auf Grund derselben<br />

jener Grundschicht oder jenem Kern menschlichen Wesens sich nähern kann,<br />

wo man auf die Instinkte stößt. Die Instinkte sind a priori vorhandene<br />

dynamische Faktoren, <strong>von</strong> denen die ethischen Entscheidungen unseres<br />

Bewußtseins letztlich abhängen. Es ist das Unbewußte und seine Inhalte, über<br />

das es kein endgültiges Urteil gibt. Man kann darüber nur Vorurteile haben,<br />

denn man vermag sein Wesen nicht erkennend zu umfassen und ihm r<strong>at</strong>ionale<br />

Grenzen zu setzen. Man er-<br />

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